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Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 09.07.1941 (3.2002.0985)

 

Nr.22

9.7.1941



Meine liebe Ursula!
Über mir zwitschern die Vögel, friedlich liegt die Landschaft ringsum - nur aus der Ferne hörte man das Donnern der Geschütze. Der Graf ist hier bei seinem Stab. Da will ich schnell ein paar Zeilen beginnen.
Vorgestern fuhren wir in die Gegend südwestlich Zwiasel. Unterwegs und noch mehr gegen Abend hörten wir das Donnern schwerer Geschütze, alles wurde eingesetzt auf die starke Stalinlinie, die hier entlang der Slucy verläuft. Tatsächlich habe ich noch nie so starkes Artilleriefeuer erlebt. Es erinnerte an Erzählungen aus dem Weltkrieg, auch im Morgengrauen des nächsten Tages und fast den ganzen Tag über setzte es erneut ein. Schon dadurch merkten wir, daß ein ernster Kampf bevorstand. In Orepy hörten wir dann auch von den ersten Verwundeten. Zwei Häuser und die leerstehende Kirche dienten zur Aufnahme der Verwundeten. In einem Zelt wurden sie dann zurechtgeflickt. Im ganzen sind wohl etwa 200 Mann dort eingeliefert. Die beiden Chirurgen hatten wohl 30 Stunden zu tun, bis sie alles aufgearbeitet hatten. Unsere beiden Pfarrer erzählten von so manchem Leid, das sie gesehen. Sie konnten dann auch bald die ersten Beerdigungen vornehmen.
Die Lage war etwa folgende: Die Stadt Zw. liegt an einem kleinen Fluß, der von Süden nach Norden fließt. Entlang dieses Flusses lief die sogenannte Stalinlinie, eine mit Bunkern stark befestigte Stellung. Zunächst versuchte ein Bataillon mit Sturmbooten überzusetzen. Diese wurden jedoch zusammengeschossen, und jeder weitere Versuch scheiterte. Erst als Artillerie herankam und größere Truppen angriffen, gelang es allmählich, Bunker nach Bunker zu nehmen. Dieser Kampf war schwer und kostete größere Opfer. Die Bunker haben teilweise mehrere Stockwerke und sollen sehr modern eingerichtet sein. Sogar einige uniformierte Frauen hat man gefangen. Jetzt ist Zw., das zur Linken liegt, immer noch nicht genommen, jedenfalls nicht ganz. Wir rücken jedoch nach Südosten vor. Adele ist wohl schon in Sch. und unser Ziel ist die große Stadt K. Es kann sein, daß unsere Panzer jetzt ins Rollen kommen und heute schon auf K. vorstoßen. In 10 km von hier stößt man endlich auf eine Hauptstraße, dann hat das ewige Gewürge wohl mal ein Ende. Gestern fuhr ich mit meinem Krad von B. zur Kriegsbrücke am H. vor, aber man ist hinterher völlig fertig. Mein ganzes Zeug war naßgeschwitzt vom vielen Schieben, außerdem hatte meine menschliche Sitzfläche etwas gelitten. Aber das macht ja nichts! Wie müssen heute bei dem sehr heißen Wetter unsere Kradschützen wieder ran! Da wird man ganz klein und bescheiden und erträgt gern ein bißchen Unbequemlichkeit. Übrigens, eigenartig ist, daß die Russen in unserem Bereich fast stets die Luftüberlegenheit haben, glücklicherweise treffen sie nichts. Heute versuchten sie die Kriegsbrücke zu treffen, doch ein bis eineinhalb Kilometer weit ab fielen die Bomben. So ist es Zufall, wenn sie überhaupt mal einen kleinen Erfolg haben. Trotzdem beunruhigen sie natürlich die Truppen. Sehr schön sah ich gestern, wie die Flak doch gut abwehrt. Sie schoß mit Leuchtspur-Munition, ganz deutlich konnte man sehen, wohin die Geschosse gingen. Der Erfolg war, daß die Russen abdrehten.

10.7.
Inzwischen ist es ganz enorm rasch vorwärts gegangen. Gestern mittag fuhr ich von der Kriegsbrücke ab, zunächst auf Feldwegen, bis wir auf die Hauptstraße kamen. Welch ein Genuß war das! Eine richtige Asphaltstraße! Mit 80 bis 90 Stundenkilometer fuhren wir auf der leeren Straße vorwärts. Ab und zu lagen russische Panzer am Wege, tote Pferde, hier und da ein russischer Gefallener. Hier waren vor wenigen Stunden unsere Panzer gerollt, dahinter die Kradschützen und die Aufklärungsabteilung. Hin und wieder kamen Trupps russischer Soldaten uns entgegen. Ohne Waffen gingen sie rückwärts auf unserer Vorfahrtsstraße. Das war ein wohltuender Anblick. Es zeigten sich ganz deutlich die ersten Spuren der Auflösung. Endlich kommt auch hier der Laden ins Rollen. Gestern war doch ganz enorm etwas geschafft. Ich fuhr also auf der Straße Richtung Sch. Unterwegs sahen wir noch mal einen russischen Panzerzug, der brennend auf der Straße lag. Kurz vor Sch. hörte man große Detonationen. Anscheinend flog ein Munitionslager in die Luft, oder es waren Artillerieeinschläge. Auffallend war auch die Haltung der Bevölkerung, einige standen mit Blumen am Wege, möglich ist natürlich, daß es Volksdeutsche waren. Auch die Gefangenen, die ohne Aufsicht am Wege liefen, grüßten teilweise mit dem Hitlergruß! Auflösung! Beginn eines raschen Vormarschs nach der langen Würgerei. Am Rande von Sch. traf ich den Grafen, der gerade zurückfahren wollte. Ich war froh, daß er mich noch zur Führungsabteilung in die Stadt schickte. Hier kam ich allerdings in die Traufe, indem ich gerade einen Fliegerangriff erlebte. Welch Glück, daß die Russen nicht treffen können. Deutlich sah ich, wie vier Bomben ausgelöst wurden und in einen nahen Garten flogen. Schaden richteten sie nicht an. Ich muß sagen, so deutlich habe ich noch nie die Bomben fallen sehen. Major Kraemer und andere Herren drückten sich eng an einem Turm zusammen, bis die Gefahr vorbei war. Der Ruf "Bomben" ist natürlich nicht die schönste Begrüßung, aber ich war nun doch einmal in der gerade genommenen Stadt. So fuhren wir denn hinein in die Stadt. Die Leitungen der Straßenbahn hingen hier herunter. Auf einem Platz lagen Tote umher, z.T. halb verbrannt, anderswo brannte ein Panzer, auch hier noch Tote. Mehrere Straßen waren ausgebrannt - und überall Scharen von Soldaten sowie lichtscheuen Gesindels, die auf Beutesuche waren. Wir holten uns Mineralwasser und Likör, den wir abends jedoch stehen ließen, weil er wie angebrannter Sirup schmeckte. Jetzt beginnt wieder die große Umwertung aller Werte. Man findet so manches, wirft vieles achtlos wieder fort. Wir fanden vor allem schöne Seife, Schuhcreme und Parfüm, ferner Badehosen, die sich bei näherem Zusehen als Damenschlüpfer entpuppten. Eine von ihnen habe ich inzwischen angezogen, nachdem ich gewisse Veränderungen an den Beinen vorgenommen habe. Solch eine eroberte Stadt macht immer wieder einen trostlosen Eindruck. Achtlos tritt man in den Lagern und Läden alles nieder, was man gerade nicht gebrauchen kann. Sinnlos werden unendlich viele Werte vernichtet. Wenn man in mehrere Läden geschaut hat, ist man völlig überdrüssig und ist froh, wenn man wieder fortfahren kann. Wir fuhren nochmals zurück, und da wir den Grafen nicht fanden, machten wir Halt und wuschen uns in einem Bach mit der neuen Seife. Nach geendigter Reinigung übergoß ich mich frisch mit Parfüm, trank ein Wasser und fuhr dann die 50 - 60 km wieder zurück. Da sitzen wir also heute in Kd. im Schatten alter Akazien und anderer Bäume. Nachher geht es weiter nach K. Gestern sang ich vor lauter Freude meine "Lüneburger Heide" - endlich ist wohl die Last des Angriffskrieges überwunden. Frisch geht es voran!
Ich gedenke Deiner in Liebe und grüße Dich recht herzlich!
Dein Heinz

 

 



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