Nach Zeitraum suchen

von 
bis 
SUCHE ZEITRAUM
Bestandskatalog PDF

Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 22.06.1940 (3.2002.0985)

 

Waffenstillstandstag 1940



Meine liebe Ursula!

Die Fortsetzung meines Briefes schreibe ich Dir aus demselben savoyischen Alpendorfe. Den letzten Brief habe ich etwas überstürzt abgeschlossen, denn zufällig traf ich den Feldpostboten, der die Post mitnehmen wollte. Da nur alle 3 – 4 Tage die Post abgeht, wollte ich nicht länger warten, damit Du nicht zu lange ohne Post von mir bist. Unsere äußeren Umstände, unter denen wir hier leben, sind eigentlich die gleichen wie gestern. Und doch hat sich eines entscheidend geändert: inzwischen ist tatsächlich der Waffenstillstand eingetreten! Gestern abend wurde uns diese Radionachricht überbracht und heute früh weht zum Zeichen dessen in diesem französischen Dorfe die Hakenkreuzfahne vom Kirchturm!
Doch nun will ich tatsächlich die Fortsetzung schreiben. Ich erzählte Dir von unserem Umgehungsgefecht bei Cassens. Wir begruben einen französischen Gefallenen, der das Opfer doppelseitigen Unverständnisses und vielleicht leidenschaftlichen Kampfgefühls geworden ist. Am Wege dort oben ließ ich ihn beisetzen. Dann zog ich auf Befehl die Fahrzeuge nach. Es ging ein wenig bergab über eine Bergwiese, die einen herrlichen Ausblick auf die schneebedeckten Alpenriesen bot. In Serpentinen ging es wieder bergab, bis plötzlich die Kolonne stoppte. Als ich vorfuhr, sah ich, daß ein Wagen den Hang fast hinabgestürzt wäre, wenn nicht die Bäume ihn aufgefangen hätten. So sah man ein Rad noch in Straßenhöhe. Ich fuhr vor zum Chef, der mich zu sich rief, meldete ihm den Vorfall, jedoch – er kümmerte sich wenig darum, stattdessen sagte er mir, daß ich den nächsten Stoßtrupp führen solle. Von der Höhe, auf der wir uns befanden, hatten wir einen umfassenden Rundblick. Tief unten im Tal sahen wir eine abziehende Kolonne von Franzosen. Unser M.G. schoß mal dazwischen, erreichte jedoch nichts mehr. Nun gingen wir ins nächste Dorf vor. Unser Chef mit entsicherter Pistole in der Hand, im Dorf sah er sich ständig nach allen möglichen Dach- und Bodenluken um, überall ein französisches Gewehr witternd. Kurz darauf schickte er mich mit einer Gruppe in das nächste Dorf. Unterwegs trafen wir 4 bis 5 französische Offiziere, die schon von weitem mit einem weißen Taschentuch winkten. Einen von ihnen nahmen wir mit, denn sie sagten uns, daß im Dorf noch 40 Franzosen seien. Bevor wir es jedoch erreichten, überholte uns ein P.K.W. von der 9. Kompanie, der den französischen Offizier vorn auf den Kühler setzte und mitnahm. In Saint Germain hatten die Franzosen bereits ihre Gewehre zusammengestellt, es war eine ganz stattliche Anzahl. Während wir im Dorf waren, hörten wir, wie die Artillerie aus dem oberen Dorfe ein einsames Hotel beschoß, das am Vormittag unseren Vormarsch verhindert hatte. Doch bald gingen Leuchtkugeln hoch, zum Zeichen dafür, daß dort bereits deutsche Truppen seien. Es dauerte nicht lange, da kam auch schon der Kommandeur auf diesem alten Vormarschwege nach Saint Germain. Viele Offiziere standen hier vor der Kirche, man sprach lebhaft vom Waffenstillstand, der zwischen uns und Frankreich perfekt sei. In der Nähe der Kirche wurden noch einige Gefallene beigesetzt; aber im allgemeinen war doch eine Stimmung der Erleichterung, daß nun endlich Schluß sei mit dem Kriege. Nun begann für mich die Aufgabe zu versuchen, daß der abgestürzte Wagen wieder flott gemacht würde. Ich bat einen Artillerieoffizier, mir eine Zugmaschine zur Verfügung zu stellen. Er sagte es zu und verwies mich an den noch oben im Gebirge stehenden Zug. Ich schwang mich nun in meinen Beiwagen, fuhr auf die Höhe, dann noch mal und schließlich ein drittes Mal mit einer schweren Artilleriezugmaschine. Die schöne Landschaft versuchte ich, so gut es ging, natürlich immer zu beobachten. Als wir nun ans Werk gingen, erlebten wir, daß selbst das starke Raupenschlepperfahrzeug nichts ausrichten konnte. Das einzige, was ich machen konnte, war, daß ich nachts noch einen L.K.W. losschickte, um die Sachen von dem abgestürzten L.K.W. zu retten. Dieser kehrte jedoch unverrichteter Dinge zurück, da angeblich der von mir zurückgelassene Posten französisches M.G.-Feuer erhalten hatte. Kurz nach Mitternacht kam ich noch dazu, vernünftig zu essen. Auf einem Wagen öffneten sie für mich eine Flasche Sekt. Brot, Butter und Dosen hatten sie auch. So konnte ich noch mal gut essen. Dann legte ich mich auf einen L.K.W. und pennte bis 5 Uhr. Wegen der Feldküche, die mit dem Troß in Cu lag, jenseits der Rhone zurückgeblieben war, wandte ich mich an den Chef, um sie holen zu dürfen. Statt dessen schickte er mich los als Spähtruppführer. Außer dem Fahrer nahm ich Unteroffizier Hartmann mit, der mit mir aus Salzwedel gekommen ist, und fuhr los. Zunächst ging's wieder bergauf nach Cassens, das wir noch mal absuchten, dann talabwärts. Unterwegs trafen wir Zivilisten, die ich nach dem Dorfnamen und französischen Truppen fragte. Zum Teil zitterten sie vor Angst und brachten kaum ein Wort heraus. Es war eine schöne Fahrt durch den frühen Morgen. Von der Höhe hatten wir einen prächtigen Rundblick, tiefer unten gerieten wir in dichten Nebel. Unser Chef hatte uns gesagt, wir sollten nicht nach Avigny hineinfahren; eine Meldung sei ihm wichtiger als ein Verwundeter. Trotzdem fuhren wir durch einen dichten Laubwald bis A. Dort sprach ich mit Einwohnern und erkundigte mich nach Allens ?, das vom Feind noch besetzt sein sollte. Es war zu reizvoll, als daß wir uns nun zufrieden geben sollten. So fuhren wir vorsichtig weiter bis zu einer Gruppe von Bauernhäusern. Dort fragte ich nach französischen Soldaten und erzählte den Leuten, daß die Feinseligkeiten eingestellt seien. Die Bauersfrau benahm sich höchst seltsam, blickte ständig bedeutungsvoll in Richtung des Weinbergs hinter dem Hof, so daß wir dort französische Soldaten vermuteten. Auf meine Frage, ob diese Gehöfte von französischen Soldaten besetzt seien, sagten sie, daß sie uns das nicht sagen könnten. Da wurde es uns zu ungeheuerlich. Unteroffizier H. nahm sein Gewehr und sicherte mit mir die Rückfahrt. So fuhren wir ein Stück zurück, ohne aber angeschossen zu werden. Mir kam die Sache zu dumm vor, und wieder fuhren wir vor bis zu einer Käserei, die schon ziemlich nahe an Allens heran lag. Dort sahen wir nichts vom Feind. Da nun unsere Zeit schon überschritten war, mußten wir eilends zurück. Auf der Rückfahrt wären wir fast von einer Frau überfahren worden, die uns mit ihrem Wagen auf dem schmalen Wege und in einer Kurve entgegen kam. Wir konnten glücklicherweise noch auf dem Schotterhaufen am Wegrand halten. Übrigens waren einige Zivilisten sehr verängstigt; eine Frau lief ins Korn, ein Mann kniete sich verängstigt am Feldrand hin.
Nach unserer Rückkehr endete mein Dienst. Ich machte mich frisch und legte mich dann schlafen. Es regnete den ganzen Tag in Strömen. Da mein Zug zur Division abgestellt ist, bin ich augenblicklich ziemlich heimatlos. Ich suchte in einem Wagen vorn Zuflucht und schrieb Dir dort auch den letzten Brief. Vom Wagen aus sah ich auch, wie ein Oberleutnant beigesetzt wurde. Gegen Abend brachte man einen neuen Gefallenen. Nun ist hier schon eine ganze Reihe von Gefallenen-Gräbern. Die Nachricht vom Waffenstillstand hatte sich ja leider nicht bestätigt, folglich wurde weiter angegriffen. Unter den Gefallenen sind 2 mir Bekannte, der Offizier leitete in Möser unseren Lehrgang; es ist der, der "Herrn Lehmann" besuchen wollte. Jetzt ist er mit anderen für Italien gefallen.
Um 10 Uhr kam die Nachricht vom Waffenstillstand, die wir mit einem Schluck Sekt feierten. Heute habe ich meist geschlafen und Schokolade gegessen. Darin bekomme ich allmählich einige Übung. Eine Tafel kostet etwa 10 Pfennig!!

 

 



Ansicht des Briefes

 

Briefe aus diesem Konvolut:
top