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Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 01.10.1939 (3.2002.0985)

 

Dessau, den 1. Oktober 1939



Meine geliebte Ursula!

Jetzt ist Sonntag Mittag. Ich sitze allein auf der Stube. Die einzige Unterhaltung ist der tickende Wecker und das Radio, das ganz leise eine klassische Musik bringt, die Dir auch wohl gefallen würde. Als ich vorhin bei Eggeling war, sah ich, wie er einen Brief an seine Frau geschrieben hatte – er titulierte seine Frau "mein süßes Frauchen". Das kann ich nun zwar nicht, aber deshalb sollst Du doch einen nicht minder herzlichen Gruß von mir erhalten. Ich frage mich, wo Du jetzt steckst, ob in Rhode oder in Ronnenberg. Jedenfalls wirst Du wohl in guter Gesellschaft sein. Ich bin aber auch nicht traurig, mal hier allein zu sitzen und nicht eine ganze Horde Kameraden um mich zu haben.
Wie ist es mir nun seit gestern ergangen? Gegen 5 Uhr gingen wir in die Stadt, bummelten ein wenig und gingen dann ins Kino, wo wir "Ich bin Dr. Sebastian Ott" sahen, in dem eine Kunstfälscheraffäre mit kriminellen Dingen verbunden wurde. Der Schluß ist mir allerdings nicht verständlich geworden, er war recht unvermittelt und völlig unglaublich. Am besten war die Wochenschau, in der man einen Einblick in den Krieg bekam. Mir wurde da deutlich, wie furchtbar doch für das heimgesuchte Land der Krieg ist. Muß man daran nicht erkennen, daß Krieg und Kriegesnot zu dem Fluch Gottes über uns gehören? Ich vermag nichts anderes darin zu erkennen. Anderer Ansicht scheint allerdings der Pfarrer zu sein, den ich heute morgen hörte. Er sprach über das Wort: "Du bereitest vor uns (mir! ) einen Tisch im Angesicht unserer (meiner ) Feinde". Als er das Wort vorlas, sagte er zwar "mir", aber nachher wählte er diese Fassung, die schon zeigt, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die Predigt hatte folgenden Inhalt: Einleitend: Jeder Tag ist Danktag – aber es ist "gut und klug und weise", daß es einen besonderen Erntedanktag gibt. Im ersten Teil sprach er über den reichen Segen, den Gott uns vor unseren Feinden beschert hat. Unser Volk hat im Osten eine reiche Ernte halten können, indem unsere Heere Polen geschlagen haben. Einen anderen Anlaß zum Dank gibt die Fürsorge der Regierung, die zeitig große Vorräte gespeichert hat und so vorsorglicher war als unsere Feinde. Auch dafür dürfen wir Gott danken und schließlich auch für die Ernte, die in beiden letzten Jahren sehr gut war. Das alles verpflichtet uns zum Anlaß, Gott zu danken. Den zweiten Teil begann er mit dem Worte "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern ...", das er dann so auslegte, daß Gott ja deutlich zu uns geredet habe in allem, was wir ihm zu danken haben. Außerdem hat Christus sich ja „das Wort“ genannt. Ganz klar wurde hier nicht, was er wollte. Verständlich wurde es, als er Goethe zitierte, der ja auch schon gesagt hat, daß zwei Seelen in unserer Brust leben, eine gute und eine böse. So haben wir den Feind nicht nur draußen, sondern auch in uns selbst. Es gilt, daß wir unser Leben auskaufen; denn es ist kurz. So müssen wir also an das Ende denken. Das etwa war der Inhalt. Der erste Teil war typische Erfolgstheologie, die ein D.C. auch nicht besser vortragen konnte. Der zweite Teil war weniger klar und auch nicht eindeutig biblisch. Im ganzen hatte ich den Eindruck, daß sich Liberalismus, dem Gebot der Stunde folgend, mit Nationalismus paarte. Das Ganze wurde mit teilweise schönen Worten, die gelegentlich pietistisch süß klangen, vorgetragen: "Wir müssen des ewigen Gottes Hände küssen". Das kann ich wirklich nicht! Der Pastor scheint aber kein D.C. zu sein; denn die Liturgie war unverändert, auch die Lieder waren die altbekannten. Sehr schön war der Gesang des Kirchenchors: "Lob Gott getrost...". Während des Gottesdienstes wurde unter Absingen eines Liedes das Opfer für die I.M. in Tüten nach vorn gebracht, wo Pfarrer und zwei Kirchenvorsteher Teller bereithielten. Das kam mir etwas theatralisch vor. Anschließend sollte Heiliges Abendmahl stattfinden. Ich hatte wohl Lust, daran teilzunehmen, aber als während des Gebetes gedankt wurde, daß unsere Waffen gesegnet wurden und ähnliches, da konnte ich nicht mehr recht mitbeten und so unterließ ich es dann und ging nach dem Segen mit aus der Kirche. Es ist ein Segen, daß es liturgische Ordnung und Lieder gibt, sodaß man daran Erbauung finden kann. Von der Predigt habe ich nicht allzuviel mitgenommen.
Heute Mittag gab es recht scharfes Gulasch, viel Fleisch. Nun leb wohl, meine kleine Frau; es grüßt Dich von Herzen
Dein Heinz

 

 



Ansicht des Briefes

 

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