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Brief (Transkript)

Eugen an Hans am 29.12.1942 (3.2002.0210)

 

Am 29. Dez. 1942



Lieber Hans!

Das alte Jahr braust von Tag zu Tag und schneller und schneller dem Abgrund und der Vergangenheit zu. Noch ein paar Tage, - aber noch in diesen paar Tagen werde ich mich verändern, oder besser: ich werde verändert. Ich verlasse wieder die Kompanie, der ich in diesen zwei Monaten doch eine gewisse Gestalt, der ich in gewisser Weise eine ‘Figur’ gegeben habe - ich verlasse vor allem diese mir so lieb gewordene Trümmer-Stätte, den Ausblick in die Ebene - zu den Russen hin - wo immer zauberhaft und überraschend die Sonne aufstand, mit unerhörten Farben oft - all das verlasse ich, diese Stille, die immer größer geworden war, seit uns der Russe in letzter Zeit so völlig ungeschoren ließ. Ich bleibe zwar in der Nähe - aber mit dem ‘Zauber’ wird es hin sein. Ich muß den Adjutanten vertreten und soll es später mal bleiben... was für ein Tausch? ich weiß nicht. Aber der Kommandeur ist mir ein sympathischer Kerl - und dann gehorcht man einfach. Na, dann werden wir wieder mit Papier arbeiten. Nur - und das ist meine größte Furcht - fürchte ich, daß nun meine Zeichnerei wird aufhören müssen, vielleicht von einer gelegentlichen Captatio abgesehen. Hier konnte ich es mir, trotz vieler Arbeit, einrichten - und wenn ich nun in den Zeichnungen blättere, bin ich fast zufrieden - obwohl man ja nie ‘zufrieden’ sein darf. Die vorgestrige Erfahrung, daß ich hier fortmüßte, hat denn auch noch ‘Energien’ entfesselt - was ich noch unbedingt unter ‘Dach und Fach’ bringen wollte, habe ich denn auch noch eingebracht. Und zwar Dinge, die ich für das Stundenbuch noch gebrauchen will. So ein leichter Druck, auch wenn man ihn sich selber verpaßt, ist doch nicht schlecht. Wenn man sich der Stimmung enthebt, etwas tun zu wollen - und etwas tut! So brachte ich noch einige thematische Blätter zusammen - eine knieende Mädchenfigur, mit einem Kranz im Haar - ich versuchte eine Stimmung in einer Gestalt zu fassen, wie Du sie aus dem Kapitel ‘Nächte’ kennst. Dann ein ‘Gespenst in der Ebene’, das hinter einem Wanderer herzockelt - weißt Du, so ein Skelett, wie es sich aus den Knochen und Kadavern, die hier in Rußland an der Marschstraße liegen, aufreckt und einen verfolgt. Dann ein ‘Steppendämon’, ein selbst-erfundenes Ungetüm, fast mit dem Leib eines Haifisches, aber mit Drachenfüßen sich über den Boden hinwälzend. Vielleicht will ich es noch in eine neue Fassung bringen. Schließlich gestern eine russische Totentanzszene - ein malender Soldat, dem sich der Tod auf die Schultern hängt. Ich glaube, es ist viel Ausdruck darin. Nun gehe ich etwas leichter, als wenn mir das noch alles auf der Seele gelegen hätte.
Eine Bemerkung noch, die ich machte, als ich mir meinen Wichser mal zum Modell nahm. Von Figur, klein, gedrungen, mit kurzen Gliedmaßen. Es war mir schwer, ihn auf meinem Papier in richtige Proportionen zu bringen, er war nichts zum ‘Abmalen’. Wenn ich zum Beispiel seine Finger ansah, diese Händchen mit den kurzen Fingerchen ohne Glieder - nein, so was läßt sich nicht abmalen, ich mußte den Knaben auf meinem Papier erst mal neu konstruieren...
Nun sind die Weihnachtstage vorüber. Durch den üblen Ausfall eines besoffenen Korporals am Heiligen Abend wurde mir die Stimmung einigermaßen verdorben. Erst langsam konnte ich die Unverschämtheiten dieses Knaben vergessen, der sich dann nüchtern natürlich Hals über Kopf entschuldigte. Am 1. Weihnachtstag war ich dann bei meinem Nachbarn eingeladen, einem jungen Leutnant, im Zivilberuf Friseur, - ein wirklich netter Kerl. Wir haben zwar keine philosophischen Gespräche geführt. Weihnachten und überhaupt Feiertage sind ja nichts zum Philosophieren. Dazu sind sie nur zu ‘allgemein’ und verstehen sich von selbst. Anderntags waren wir bei unserm ungarischen Nachbarn und haben dort in aller Lustigkeit gesessen, haben uns sogar fotografieren lassen und kräftig die Achse geschmiert. Es war sehr lustig.
So weit meine Morgenepistel. Wenn es ins Neue Jahr geht, werde ich ganz besonders an Dich denken. Laß Dir alles, alles Gute wünschen!
Dein Eugen

Am 31. Dez. 1942
EIN GUT NEUJAHR!

 

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