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Brief (Transkript)

Eugen an Hans am 20.7.1940 (3.2002.0210)

 

Am 20. Juli 1940



Lieber Hans!

Tausendmal muß ich nun dementieren, daß in Deinen Briefen eine lange Lücke gewesen sei; das war so, aber hernach kamen Deine Briefe zuhauf, 4 auf einmal, nächsten Tag wieder, und heute gar wieder zwei! Ich werde geradezu beschämt, wenn ich denke, daß ich Anfang der Woche einmal und seitdem bis heute keinmal schreiben konnte, tatsächlich nicht. O, so ein verfluchter Übungsplatz! Als einmal an einem Abend Zeit war, da tagte der Skat-Club, und der Tisch war derart besetzt, kein Platz in der Stube - daß ich mich in mein Bett flüchten mußte und mir Lektüre als einziges blieb. Nun will ich heute am Samstag (nach einer ziemlichen Regenwoche, die uns oft so durchregnete, daß Kleider und besonders die steinhart-gewordenen Stiefel uns allerlei Molästen verursachten - genug) - heute am Samstag also will ich mit meiner Schreiberei einiges gutmachen. Es wird freilich zumeist nichts ‘Neues’ sein; was erlebe ich hier schon? Vielmehr ein Reflex auf Deine Briefe mit den berauschend schönen Bildern! Es ist ein sehr nüchterner Rausch, bei dem einem nicht die Augen zufallen, sondern groß und weit werden - aber gar nicht groß genug, um alles zu fassen; deshalb tritt auch der Geist in Bewegung. Du bist in Poitiers? Benedictus tu! Dein ‘Vormarsch’, nun nicht mehr im Waffenlärm, bringt Dir so unvergleichliche Chancen, daß ich gar nicht mal Worte genug finde für Euren Treck! Ist es nicht eine Studienreise für Dich geworden? Wie viel besser lernst Du so den Volkscharakter kennen. - Vielleicht entdeckst Du nun mehr Eigenschaften an ihm, als er in ruhigen Zeiten selber ahnte. Und da Glück und Elend in richtigen Ordnungen sich verhalten, schließen Übermaß des einen oder anderen sich einander nicht etwa aus sondern steigern einander: das Schöne läßt die Not nur noch schmerzlicher spüren, das Grauenvolle erhebt die Schönheiten bis an die Sterne. Und wer so wie Du zu sehen versteht, der kann nicht enttäuscht werden, weil ihn eine tiefinnere Überlegung nur immer erneut die Linie weist, von der jener abgewichen ist. Und wäre es, wäre alles Traurige und Bedrohte so tief, daß nur einige Zacken aus diesem Grunde herausragten: das Auge verbände die Gipfel und erblickte eine Geisterreihe, unendlich und mannigfach. Umso mehr erheischt dann der Abgrund Bestürzung und Trauer. Ich habe mir nämlich Gedanken gemacht bei Deinen Briefen und war mir gewiß, daß es wenige junge Deutsche im grauen Waffenrock gibt, die in Kriegszeiten ein anderes, feindliches Land so zu sehen vermögen - gäbe es wohl noch weniger Franzosen, die eine solche Bereitschaft im anderen Falle aufbrächten? Wenn ich mich in einigen Dingen zu ziemlichen Optimismus aufgerafft habe (und man muß sich ja aufraffen, wenn das Schwergewicht uns anders wohin zieht!), so verteilt auch dieser Blick Hell und Dunkel nicht nach malerischem Gutdünken, sondern gewinnt von Gegenstande her die Valeurs, die ein Licht, außer uns, bewirkt.
Gestern sprach der Führer - es war eine Bilanz nach den Schlachten im Westen - es waren zugleich die ersten Takte einer Ouverture, die wohl bald ein unerhörtes und grauenhaftes Crescendo in der Folge hat, wann der Krieg gegen England zum Endschlag einsetzt - ein Krieg, der tragisch für England ist, das ihn total führen will; gewiß in einer richtigen Erkenntnis. Aber gibt es so was noch, ‘heroischer Untergang’? Wenn die neue Kriegsführung auch eine Seite hat, die ich ‘sympathisch’ nennen möchte (was gestattet solche Ausdrücke überhaupt in rebus militaribus?) - dieser heroische ‘Untergang’ ist in einem modernen und totalen Kriege, der auf Vernichtung ausgeht, nicht heroisch. Ein Soldat vermag heroisch zu sterben, weil er sich einsetzen kann und einsetzt (und er hat es noch in diesem Kriege tausende Male getan!) - aber Frauen, Greise, Kinder? Du hast das Elend selber gesehen und mir eindrucksvoll beschrieben; und wenn sich bei der Haltung und Leistung der Frauen das Wort ‘heroisch’ auf die Lippen drängt, so ist es der Einsatz für andere, für ihre Familie, ihre Kinder; das Wort ist vom Kosmos und Chaos mitgeprägt und gewinnt auf der anderen Seite transzendenten Glanz. Aber heroischer Untergang? Bittere Worte drängen sich auf. Wenn es angesichts eines einmal begonnenen Krieges auch überhaupt müßig ist, von Schuld zu sprechen, weil niemals ein Sterblicher genau die unsichtbare Kontur verfolgen kann, die zwischen Schuld und Freiheit liegt: die Verantwortung hört nimmer auf! Hier liegt das Schwergewicht, das auch auf den Engländern lastet - hier liegt das Verdienst Pétains, der in richtiger Erkenntnis den Glauben an imaginäre Wunder verlor und rettete, was zu retten war. Die Lage Englands hat etwas von Shakespearescher Tragik und Dramatik - wie ja die ‘Haupthelden’ oder Marionetten eines unglücklichen Temperaments, so wie sie sind, auf einer Bühne Shakespeares stehen könnten. Muß ich da Namen nennen? Wie komme ich auf dieses Thema? Volkscharakter! Die Engländer, gewiß, sind uns verwandter als die Franzosen. Sammelt sich deshalb mehr Erbitterung auf ihr Haupt? Sie haben neben vielen unangenehmen Eigenschaften bestimmt nicht diese: den Haß -aber ist der Haß überhaupt eine Eigenschaft? Er ist elementar. Und ist der Haß nicht blind? Aber die Feindschaft Britanniens ist sehend, nüchtern, bewußt, rechnerisch und voller Absicht. Beide haben recht, wenn sie uns mit Unrecht Barbaren schimpfen. Hinter solcher Barbarei verbirgt sich unsere Seele, die vielfach zerklüfteter ist - aber immer Tiefe aufweist. Der ‘Biologismus’ ist unsere Gefahr - aber nur, wenn er zur Weltanschauung wird; denn den BIOS genau betrachten, heißt seine Unzulänglichkeit entdecken, sein Irdisches - weil ja niemand die Seele sieht. Aber die Gefahr zeigt uns den Brennpunkt: in unserer Gesundheit liegt auch unser Reichtum - und wenn das wie ein Plakat in einer Apotheke klingt: ich glaube daran. - Der französische Bildhauer Maillol, als er einmal in Deutschland weilte, rühmte, wie so viele junge und schöne Menschen in unserem Lande seien, - Aber wie oft verliere ich auch den Glauben, wenn ich sehen muß.... na, laß mich schweigen!
Ich bin vom Anfang weit abgeirrt: ich will von den Fresken aus Poitiers sprechen, die Du mit schicktest. Wie dankbar muß ich Dir sein - und wie soll ich Dir nun etwas ähnlich Schönes zukommen lassen? Ich weiß nichts; aber ich will etwas besonders Schönes für Dich ausfindig machen - weiß nur nicht, ob mit Erfolg. Sonst will ich Dir nach Wunsch etwas zeichnen. Vielleicht den Christus aus dem Tympanon in La Charité? Übrigens, soviel ich sehe, ist alles hier angekommen. Nur hinkt die Verständigung immer um 4 Wochen nach: Wenn Du in 14 Tagen meine Briefe empfängst und ich wiederum in 14 Tagen die Deinen, so ist jedes Wort mit seinem Echo erst in einem Monat dort, wo es ausging - jedermann hat eine ‘Empfangsbestätigung’ erst nach 4 Wochen, - Aber die Fresken, von denen ich mich doch nicht abbringen lassen darf! Ach, beschreiben lassen sie sich nicht; man müßte einen Hymnus auf ihre Schönheit anstimmen - aber kann ich denn im Liede fassen, was hier im Bilde ist? Zuerst kommen die 4 Propheten. Diese Malerei war wie eine Offenbarung: ganz Malerei, ganz Idee - und Kraft und Blut: alles nicht: ganz Bild, aus dem unser Gehirn ein Nachschlagewerk machen will, indem es bekannte Vokabeln sucht. - Diese Figuren strömen eine Kraft aus, die mir nirgendwo so elementar erschien; dennoch haben diese Männer keinen ‘Körper’! Und dann heute die wunderbaren Fotos - schick mir kein Geld mehr! Was es hier zu kaufen gibt, läuft alles nicht fort; wann aber bekommen wir später die dortigen Dinge? Also kaufe alles! Ah! Das Reiterbild! Und die anderen Szenen, - Du gabst übrigens das Stichwort: Bertlich. Ich dachte auch daran - die große Kluft überspringend, bis man überhaupt die Fähigkeit für Material und große Fläche hat. Aber es ist die erste Möglichkeit, die erste Aussicht - wenn die durch weniger schöne Attribute auch nicht ganz unverstellt ist. Warum soll man nicht an die Zukunft denken? - Der Christus aus La Charité: diese Ausdruckslosigkeit bei soviel Ausdruck - die zu erreichen ist Geheimnis, höchstes Ziel - vielleicht Gnade: die Gnade zur Einfachheit, - Ich erstehe mir in Wien alles, was irgendwie mit Bibelillustration zu tun hat - also zusammenhängende Serien. Ich bin einer Ikonographie auf der Spur, von der ich die erste Lieferung habe: Das A. T. in der Graphik. Es sind moderne Geschmacklosigkeiten darin - aber sonst ein paar schöne alte Holzschnitte, - Ein Antiquariat hat eine Erstausgabe sämtlicher Werke Jean Pauls in ca. 50 Bändchen da - habe mich erkundigt - kosten ungefähr 50 Mark. Leider unerschwinglich! Aber es sind wohl noch andere Dinge da.
Heute bekomme ich wiederum 2 Briefe aus Frankreich. Von Fritz Brinkmann, der sein hautumspanntes Skelett in die Fluten der Biskaya taucht - 60 km von Bordeaux entfernt. Dann von Winhold Göke, der die Strecke ähnlich wie Du gefahren ist und nun in Paris weilt. Er schrieb auch von den Kathedralen. -
Innerhalb der kleinen Bändchen, die Jansen-Cron, mit mehr oder weniger Geschmack, aber mit Geschick herausgibt, war eines über die ‘Mutter’! Was ich bei der Herausgabe dieser Bändchen wünschte, will ich nicht bereden. Es handelt sich um die beiden Zeichnungen von uns, von unseren beiden Müttern. Wäre ich nicht gewiß, daß Fazaun Dir ein Exemplar geschickt hat, schickte ich Dir gleich eines. Ich möchte solchen Zeichnungen gar kein Prädikat ausstellen, weil man es angesichts des Themas gar nicht kann. Zu Deinem Bilde: Du mußt Deine Mutter noch öfter zeichnen, wie ich die meine noch oft zeichnen will. Zur Vollendung wird man es schon deshalb nie bringen, weil man nie ‘fertig’ wird! Technisch sind die Zeichnungen in Feldhausen ausgezeichnet und wohl noch besser als das Mutterbild, bei dem allerdings, wie ich oben sagte, ganz andere Dinge vorherrschen. Meine Zeichnung, die ja schon einmal reproduziert war, ist mir die liebste geblieben - wenn ich das Datum von 1934 sehe, möchte ich selber nicht glauben, daß dies Blatt so alt ist. Ich mag es nicht missen. Gestern bekam ich von Fazaun (der die Spur von Berke ganz verloren hat und auf der ‘Suche’ nach ihm ist; ich denke mir, er ist eingezogen, plötzlich, und seine Frau ist zu Verwandten) - ich bekam von ihm ein Heftchen über den Münsterschen Dom, gut gedruckt und ausgestattet. Man bekommt richtig Heimweh nach Hause - die Heimat verliert auch im Vergleich mit unseren neuen Erlebnissen nichts. Ich irre mich gewiß nicht, wenn es Dir im schönen Frankreich genauso ergeht. Du kennst die Redensart, die ich in unserer Armut angesichts des Kommenden gebrauchen möchte: Der Herr bewahre uns vor plötzlichem Reichtum. Was Spott und Scherz scheint, hat eine ganz ernste Seite: man kann nichts weniger vertragen, als eine Reihe von guten Tagen.
In der Sondernummer einer Illustrierten mit dem Titel ‘Frankreichs Schuld’ ist innerhalb der Stimmen erlauchter maßgeblicher Vertreter Frankreichs auch die Stimme Claudels vernehmbar mit seinem Bild. Er ist natürlich nicht als Dichter erwähnt sondern nur als ‘einstiger französischer Oberkommissar’ für die Abstimmung in Schleswig-Holstein; und die abgedruckte Äußerung, daß Deutschland in einen föderalistischen Staat verwandelt werden müsse, stammt aus dem ‘Figaro’. Ist möglich, daß die politische Rolle nicht der Weitsichtigkeit entspricht, die wir an unserm Dichter-Freund lieben. Wenn auch bei ihm Unverständnis für uns die Feder führt: die Liebe zu seiner Dichtung wollen wir uns nicht nehmen lassen. Wenn die Dichter sich schon öffentlich äußern, dann sollte es nicht die Meinung des Tages sein, der sie das Wort reden. Sie sollen steigen in Tiefen, aus denen die oberflächlichen Verhältnisse anders wirken, anders, d. i. richtig! - Sein Kopf ist sehr interessant. Helle Augen, sehr füllig und massiv, geladen mit Energien. Ich verwahre das Blatt.
Aus Deinen Zeilen spricht die Begeisterung mit ihren ‘eventuellen Folgen’, die die Zeichnung Grenzes bei Dir entfacht hat. Gewiß, da muß man an sich halten (‘Nicht Gelegenheit macht Diebe - sie ist selbst der größte Dieb’), aber Eines: wenn Du dadurch etwas retten kannst vor dem Verderben, daß du es mitnimmst: dann nimm es unversehens mit. Besser mit ‘einem Auge’ nach Deutschland als mit ‘beiden’ in Frankreich kaputt gehen. (Oder suche ich fromme Sprüche für ‘frevelhaftes Beginnen’?) Man tau!
Wenn Du fürderhin Zeit hast: kaufe Papier und Stift und verleibe Deinem Skizzenbuch zumindest einige Ansichten, auf Poitiers, die Kathedrale usw. ein. Du hast damit Andenken für ewig.
Nach England wirst Du nicht kommen. Ich habe den Eindruck. Was als Besatzungstruppe dort bleibt, kommt nicht fort. Die Truppen sind wohl meist in der Heimat, ich habe einen Haufen ‘mit’= empfangen, ein Daumensprung links von der Generalität! Aber ich wünsche Dir auch, daß Du nunmehr heil und gesund bleibst. Von mir selbst kann ich Dir in einigen Wochen Neues berichten. Ob Angenehmes oder Enttäuschendes steht noch aus. Du wirst es dann erfahren. Vorerst jedoch zeigt noch nichts darauf hin, daß wir für England vorgesehen sind. Wir sind überhaupt nicht vorgesehen, das Wachbataillon ist ein Verein für sich, da kommt ein kleiner Wehrmachtslehrling gar nicht hinter. Wer später über die ruhmvolle Tätigkeit unserer Truppe hier in der Etappe, von der sich alles in ein aktives Leben sehnt, schreiben will, muß die Überschrift gebrauchen: so was gibt’s in keiner Apotheke! Als Schluß den herrlichen Satz, den der Ostmärker in allen Tonarten, Schattierungen, Lebenslagen (ob Schmerz, ob Ernst) von sich gibt: do kann ma halt nix mochen! -
Und Du hältst Deinen Aufenthalt dort noch für unfruchtbar? Na hern’s! Deinen unheimlichen Hunger auf Urlaub kann ich freilich nur zu gut verstehen. Und wie ich Dir und Deinen Eltern dieses Glück wünsche! Gertrud, die nach dem Tode ihrer ‘Ömma’ schwer mitgenommen ist, hat genau ausgerechnet, daß sie Dich... (jetzt vor einigen Tagen) vor 11 Monaten in Ostpreußen gesehen hat. Ich muß ihr auch noch schreiben - alles jetzt noch, obwohl draußen verführerisch die Sonne lacht. Aber die Pallietra ist schon ein Frauenzimmer, das sich nett in ‘unserer Familie’ macht und der deshalb auch Aufenthaltsberechtigung ausnahmsweise zum ‘Männer-Colloquium gestattet sei, - Weiß übrigens gar nicht, ob sie auf den ‘symbolischen’ Namen Pallietra süß oder sauer reagiert. - Da ich an die Flamen denke: unter den Belgiern hier sollen viele Flamen sein. Mit welchen Gefühlen? Wird Holland seine Selbständigkeit behalten? Und Belgien? Da gerate ich wieder in die Politik. Schluß jetzt! Das Papier hier reicht sonst nicht. Noch eine Woche in der Wüste hier, die landschaftlich herrlich, für den Stiefel des Infanteristen feucht und sumpfig ist. Aber Du weißt... Weißt Du auch, wieviel Grüße ich Dir schicke? So zahllos viele, wie hier Unkraut wächst. -
Herzlich
Dein Eugen

 

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