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Brief (Transkript)

Ludwig Kerstiens an seinen Vater am 21.11.1943 (3.2002.0822)

 

Rußland Sonntag 21.11.43



Lieber Vater.

Heute am heiligen Sonntag, der für uns allerdings Werktag wie jeder ist, wollen wir uns mal wieder etwas unterhalten. Ja, [unleserlich] in zwar nicht zu erzählen. Wir sitzen hier schon mit dem Art. Verbindungsoffizier seit 4 Tagen in der ersten Linie und hören nichts mehr von unserer Einheit, als daß dort die Post auf uns wartet seit Tagen. – Der Krieg ist hier schon ganz anders, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Vor uns liegt 100-120 m der Russe. Wir wohnen hier dabei in einem Haus, gehen frei und aufrecht herum. Wir braten uns unsere Enten, funken und leben herrlich und in Freuden. Die pfeifende Infanteriekugel hört man kaum noch, den Granatwerfereinschlag 30 m ab überhaupt nicht mehr. Das ist alles furchtbar harmlos. Wir haben in der Abteilung noch keinen Verlust gehabt, obwohl wir tagelang nicht nur in der vordersten Infanterielinie gelegen haben, sondern sie mit ein paar Panzern kilometerlang dargestellt haben. Daran siehst Du, wie schwach der Russe hier ist. Dabei nennt sich doch der Raum von Kiew Hauptkampfgebiet! Nun wen’s trifft und wer den ersten Sturm mitmacht, für den ist es was. Aber das sind von 1000 noch nicht einer. Das habe ich überhaupt gesehen: von den Rußlandkämpfern liegt noch nicht 15 % am Feind. Das andere sieht gar keinen Russen. 150 km zurück stauen sich die Straßen von zurückfahrenden Kolonnen, vorm Feind denkt man heute nur noch an Vorgehen.
Im prächtigsten Gegensatz steht dazu das Elend der Ukrainer. Einzeln und in Kolonnen, mit Kleinstkindern und alten Mütterchen, mit schweren Säcken und dem letzten Stück Vieh ziehen sie durch die von zahllosen Bränden beleuchtete Regen- und Sturmnacht. Zerwühlt, überstürzt verlassen, voll hungrigem Kleinvieh liegen die Wohnungen da. Grausiges Elend! Diese Menschen haben nichts mehr, nicht nur keine Heimat sondern buchstäblich nichts. Abends liegen sie dann neben irgendeinem Strohschober am kleinen Feuer und zucken bei jedem Knall zusammen. Das ist Krieg! Nicht die Kugel, die uns mal um den Kopf pfeift.
Dabei ist dies das reichste Land der Welt. So was findest Du garnicht wieder. Man ist lieber Linsensuppe als Gänsebraten, lieber Honig als Wurst, weil man Fleisch und Fett sich übergessen hat. In unserem Wagen liegen 10 kilo Honig, 30 kilo Speck, 20 kilo Mehl usw. Mit Federvieh wirft man uns tot. Überfluß überall. Wenn man nur schicken könnte! Denn an Urlaub ist noch nicht zu denken. Nun, warten wir. Wer weiß, was kommt?
Herzlichen Gruß besonders auch Ursula
Dein Ludwig

 

 



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