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Brief (Transkript)

Ludwig Kerstiens an seine Tante am 14.3.1943 (3.2002.0822)

 

O.U. 14.3.43



Liebe Tante Lies.

Über Deinen Brief habe ich nachgedacht; aber ich glaube, Du urteilst doch von Dir aus, wie Du die Jungens kennen gelernt hast. 99% der Jungen, die aus einfachen Kreisen stammen – denn das wird ja heute noch meist durch den Schulbesuch dokumentiert – sind auch ganz in dieser Sphäre aufgewachsen. Ihr Denken und Leben kreist um die Pole der (schweren) Arbeit und der Entspannung. Diese aber finden sie in der leichten d.h. meistens leichten Unterhaltung (Variete, Spielfilm) und Alkohol. Besonders das letztere wird hier doppelt groß geschrieben. Ihr Schönheitsempfinden erstreckt sich fast ausschließlich auf Filmschauspielerinnen und „schöne“ Mädchen. Du brauchtest nur einmal den Kitsch anzusehen, der hier die Stube schmückt, und die „Musik“ anzuhören, die hier angestellt wird. Mit diesen hat man nun so gut wie garkeine gleichlaufende Gefühle oder dieselben Interessen. Wenn man ihnen aber seine Ansichten, nur die Freude an der Schönheit der Natur, nahebringen wollte, würde man entweder verlacht oder als Großsprecher und Eingebildeter verhöhnt und ausgeschlossen. Das wäre ja vollkommen falsch. Das könnte man höchstens bei einem, dem man schon näher gekommen ist. Aber der Ansatzpunkt, wo man anfangen kann, der fehlt eben. Die Kameradschaft, alles Schöne und weniger Angenehme miteinander zu teilen, jeden überall behilflich zu sein usw., hat damit nichts zu tun. Sie ist eine Selbstverständlichkeit. Aber zu einem engeren Bund kann es erst über den Weg des Kennenlernens und Verstehenlernens, das ist das Wichtigste, kommen. Dazu fehlt aber die Gelegenheit, da keiner mit seinen innersten Gedanken und Gefühlen herauskommt. „In Gesellschaft muß man den Schlüssel vom Herzen ziehen“, sagte Goethe einmal unter Kameraden auch, wenn man nicht der Masse beistimmt. Zu einem engeren Bund kann es aber erst kommen, wenn man sein Herz aufschließt.
Nun siehst Du, die höheren und Mittelschüler, das sind nämlich die aus den gebildeteren Kreisen, haben wenigstens zum Teil dieselben Interessen und das selbe Wissen, auf denen aufbauend man sich unterhalten und seine Meinungen austauschen kann. Als Mensch steht diesem dabei vielleicht genauso fern wie dem anderen, wenn sie auch nicht von zu Hause schon mehr wirkliches Schönheitsgefühl in Natur und Kunst eingepflanzt bekommen haben – wie ich auch.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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