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Brief (Transkript)

Reinhard Schmidt an seinen Bruder Franz am 1.6.1943 (3.2009.0574)

 

1.6.43



Lieber Franz!

Leider habe ich meine zukünftige Schwägerin trotz allen Suchens nicht auf dem Markt gefunden. Als ich nun gestern gegen 5 Uhr auf dem Markt herumspazierte, sah ich sie endlich. Sie stand vor dem Riesenrad mit Schlange. Ich ging natürlich sofort zu ihr hin und bat sie, nach Mutti zu kommen. Aber sie sagte: „Nee, dor weur ick schon.“ Damit gab ich mich dann natürlich zufrieden. Wie sie bei Mutti war, hat Mutti dir wohl schon geschrieben. Den Hauptteil hat Mutti ja auch besorgt. Ich wollte sie ja blos bescheidsagen. Nun erst einmal vom Markt selber. Der war ganz flau. Ich will dir die Buden einmal aufzählen: 1 Kettenkarussel, 1 Riesenrad, 1 Kinderkarusell, 2 Schießbuden, 1 Eisbude, 2 Würfelbuden, 1 Indianerbude und eine Cowboy-bude, 1 Hau dan Luckas und dann noch einige kleine Schirmbuden. Die Buden und Karusells standen wohl da, aber für uns deutschen war da nicht viel zu machen, wo man hinsah, sah man Ausländer. Diese haben natürlich auch dafür gesorgt, daß alles, was kaputtzumachen war, in Trümmer gelegt wurde. Den Hau-den Luckas konnte man schon eine Stunde nach der Markteröffnung micht mehr benutzen. Die Kettenkarusell stand gestern mit einem Ruck still, und wäre um ein Haar auf die ganzen Menschen raufgekippt. Sie wurde natürlich sofort gesperrt. So geschahen noch viele kleine Dinge wie zum Beispiel an der Indianer-Bude. Die Tücher die rund um den Schauplatz gehängt waren, fielen immer wieder hinunter. Ich war nun ja nicht immer da, und konnte darum nicht alles sehen, was dort angerichtet wurde. Nun mal etwas von den Kaninchen. Wie ich dir schon geschrieben habe, habe ich den Braunweißen Bock mit einem Weißen Weibchen, welches rote Augen hatte, eingetauscht. Dies bekam 6 Tage nachdem sie belegt worden war, Junge. Es sind 8 Stück. Außerdem habe ich mir Drüben 4 halbgroße Kaninchen gekauft. Somit habe ich nun also 13 Kaninchen. Jeden Tag geht es nun mit Sack und Sichel zur Elbe.
Nun will ich einmal etwas von der Schule schreiben. Als erstes will ich die deutsch-Stunden beschreiben. Unser deutsch- und Rechenlehrer heißt: Prahl. Das ist einer der besten Lehrer, die ich überhaupt schon gehabt hab. Er schlägt nie, gibt nie Strafarbeiten und schimpft nur, wenn einer eine 5 oder 6 in einer Arbeit liefert. Dieses kommt glücklicherweise sehr selten vor. Wir haben bisher 1 Aufsatz und 2 Diktate geschrieben. In dem Aufsatz lieferte ich eine 1, in dem 1. Diktat eine 2, in dem 2. eine 3. Hausarbeiten bekommen wir verdammt viel auf. Dabei hat mir viel dein 1+2 „Fröhliches Deutschbuch“ geholfen. Wir haben zuerst die Sätze zerlegt. Da half mir das Kapitel „Satzlehre und Beistrich deines 1. Deutschbuches. Wir mußten die Sätze im Hause zerlegen, und ich wußte die Fragen nach den einzelnen Satzteilen nicht. Diese standen ja glücklicherweise in deinem Buch, denn Mutti wußte sie auch nicht. Nach der Satzerlegung sind wir bei der Kommasetzung angefangen. Auch hier half mir das Buch bei der 4 seitenlangen Hausarbeit für deutsch. Bei der Kommastellung sind wir heute noch.
Nun vom Rechnen. Da müssen wir anscheinend noch sehr viel lernen, denn wir jagen wie die Wilden vorwärts. Wir berechnen englische und russische Geld- und Gewichtseinheiten. Am Anfang schien es sehr schwer, aber wenn man die ersten Stunden ordentlich aufpaßt, begreift man das andere auch schnell. Die beiden Bücher „…Arithmetik und Algebra“ und die „logarihtmische und Arigonometrische Tafel“ kann ich noch nicht gebrauchen. Einige Aufgaben aus dem Algebrabuch versuchte ich zu lösen, aber weit reicht meine Kunst nicht. Dagegen kann ich sehr gut den Abschnitt: „Tabellen und geometrische Veranschauung“ aus dem Algebrabuch gebrauchen, denn solche müssen wir in der Rechnen sowie in der Erdkundestunde aufstellen. Aus dem anderen Buch werde ich ganz und gar nicht schlau. Ich kann mit den Zahlen nichts anfangen. Wenn Du noch lange diese freien Tage hast, dann schicke doch bitte einmal eine Erklärung dafür. Vieleicht kann ich die Tafel sehr gut gebrauchen und weiß da nur nicht mit umzugehen.
Nun die Handelskunde: Unser Lehrer heißt Schmedicke. Wir nennen ihn heimlich: Heil Hitler, denn er stellte sich bei uns folgendermaßen vor: „Heil Hitler, ich bin Parteigenosse!“ Jede Unterrichtsstunde die wir bei ihm haben, beginnt mit einem Führerwort. Zum Beispiel: „Das Volk dient nicht der Wirtschaft, und die Wirtschaft nicht dem Kapital, sondern das Kapital der Wirtschaft, und die Wirtschaft dem Volke.“ Nach dieser Zeremonie erklärt er uns den Sinn verschiedener §. Nachdem wir diesen intus haben, werden sie uns diktirt, (denn Bücher gibt es nicht) und wir schreiben artig mit. Zum nächsten Mal müssen sie dann auswendig heruntergerappelt werden können. So ein § kann unter Umständen 3 Seiten lang sein! Aber wir sagen uns, wir sind freiwillig hingegangen, und müssen darum nun auch feste paucken. Nur die Dummen schimpfen. Bei dem selben Lehrer haben wir auch noch Kontorkunde. Unter Kontorkunde haben wir uns alle etwas anderes vorgestellt, denn dort müssen wir jetz sitzen und das (nun staune!) A,B,C, lernen. Als ob wir eben zur Schule gekommen seien und nicht schreiben könnten. Wenn es noch andere Schreibarten wären, aber es stimmt alles mit der Volkschule überein. Nun nächstes Kapitil: Buchführung. Die Lehrerin heißt: Fräulein Molsen. Sie ist 40 Jahre alt. Sie ist ganz gut, wenn man bei ihr aufpaßt. Sie macht uns das alles so leicht, aber wenn da einige einfach nicht begreifen wollen, so wie gestern, dann kann man sie unter Umständen ganz fertig machen. So war es gestern. Unsere Sorgenkinder wollten das Leichteste einfach nicht begreifen. Das ergebnis war: Nervenzusammenbruch der Lehrerin. Das kann man nicht gut beschreiben. Sie hat sich fast bis zum letzten Augenblick gehalten, dann war es mit der Beherrschung ganz vorüber. Total verwirrt lief sie aus der Klasse, knallte die Tür zu und ließ uns allein. Was Buchführung ist, weißt Du wohl selbst. Für heute will ich schließen, denn die [Kurzschrift]
Reinhard

 

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