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Brief (Transkript)

Werner Leendertz am 26.6.1940 (3.2002.7247)

 

26. Juni 40



Mein Liebes,

jetzt kam ich in Besitz Deines Briefes vom 4. Juni und es reizenden Bildes von Beatrix, das mich sehr begeisterte! Ich glaubte es schon verloren, als ich in einem späteren Brief von Dir davon las. Ebenfalls kam das Buch an. – Die letzten Briefe von Dir sind nun vom 17 u. 18. aus Frankfurt. Nun habe ich Dir gar nicht geantwortet, habe sogar falsches geschrieben, als ich glaubte, die erwartete Reaktion auf Viktors Verlobung wäre ausgeblieben. Schade, daß Du Kummer hattest, und ich kann Dir die Situation so gut nachfühlen. Wenn auch nun das Ganze wieder sehr viel weiter zurückliegt, so wird im Grunde sich nicht viel daran geändert haben und das Resultat, daß Du einen Grad mehr alleine bist als Vorher, besteht ohne Zweifel. Hoffentlich – und Deine Briefe aus Frankfurt bestätigen die Hoffnung – war der Aufenthalt in Frankfurt eine schöne Abwechslung. Über die Karte von Euch Geschwistern freute ich mich sehr, in der Temperatur war sie genau richtig und bewahrheite nicht Deine Befürchtungen. Mein Leben hier geht verhältnismäßig frei und auch komfortabel vor sich. Noch immer – ein Aufenthalt von ein paar Tagen kommt uns Zigeunern ja schon lange vor – sind wir in der Hauptstadt und in unserer kleinen modernen Villa außer Wasser und Licht alles in Fülle und futtern uns dicke Bäuche an! Ich habe sehr interessante und freie Arbeit und fahre längere Touren dienstlich an der Küste lang und genieße dabei die herrliche Landschaft bei meist auch herrlichem Wetter. Daß ich nicht entsprechend dem und den glücklichen Ereignissen in großer fröhlicher und aufgeschlossener Stimmung bin – manchmal jedenfalls – liegt an mir und ist bedingt durch gerade die freie Zeit und das ungewohnte Wohlleben – dem Soldat ist Härte und sturer Dienst besser, tatsächlich! Überlegungen um Frau und Heimat scheinen in der Not zu stärken, im Komfort zu behindern auch da dann gedanklich den ganzen Einsatz auf die pflichtgemäße Arbeit zu konzentrieren; ich denke zwar, daß in den paar Stunden, die ich zu arbeiten habe, dies bei mir doch der Fall ist und glaube den Chef auch zufrieden – doch sonst machte man sich gar nicht solche Überlegungen und sparte und drängte zurück auf Abend und sonstige Freizeit. Jetzt, wo ich viele Briefe an Dich schreiben könnte, bringe ich nur wenige zustande und schreibe Dir nun auf dem Zimmer bei einer seltenen ergatterten Petroleumfunzel sitzend, ganz spät am Abend. Es ist eine Unruhe in mir und ich fühle, daß ich tatsächlich wieder lernen muß, frei zu arbeiten und Freizeit zu gestalten. Schwimmen im Meer und Motorradfahren sind gut in solchem Zustand, und beides ist nicht selten.
Aus der Bibliothek des hiesigen Hauses las ich „Education sentimentale“ von Flaubert, von dem ich bislang noch nichts gelesen habe. Stelle ihn unter Stendhal, und weit. – Wenn man die Stoffe und Helden der franz. Romane im ganzen 19. Jahrh. vergegenwärtigt, so liegt von heute gesehen doch schon ein Keim deutlich dort vorgezeichnet von dem, was das Frankreich von heute so schnell zerbrechen ließ. Gewiß übertreiben und konzentrieren und dichten! – die Romanziers die Ereignisse und Eigenschaften der handelnden Personen – aber sie fanden sie im Typ doch so vor, und das häufig. Bei Stendhal haben die Helden noch ihre Linie, ihr Streben ruft in seiner Eigenart die Schicksale hervor oder bestimmt die Wirkung [...]; bei Flaubert wird der „Held“ von der Umwelt, von den Ereignissen geworfen, erliegt den Versuchungen, verpaßt keine Gelegenheit, Charakterschwäche zu zeigen. Ich bin heute heller geworden für solche Werte und empfinde diese Seiten schärfer, durch den Umlauf der Geschichte einerseits – und durch meine eigene Veränderung seit den letzten Studenten[...] finde ich das nicht nur „menschlich“ oder „interessant“, sondern erlaube mir ein Urteil. Wir glaubten ja früher immer, der, der nicht urteilte stünde per se höher als der Urteilende, egal ob der „Objektive“ aus Schwäche zur Entscheidung oder sonstigem Unvermögen, oder aus wirklicher Objektivität urteilslos war. Ein meinem Alter und der damaligen Zeit zugleich sehr geläufiger Fehlschluß.
Immer, wenn ich Dir erzählen will, von mir, komme ich an’s Dozieren, entschuldige. Doch nähere Angaben über mein Leben sind nicht möglich, und so bleibt das zu berichten, was außerhalb der Pflichterfüllung liegt – und das ist keine Tätigkeit, sondern Überlegung. Und Sehnsucht und Liebe zu Dir – auch hierfür ist mir an Flaubert’s Buch doch klar geworden, wie verzerrt dort alles ist und wie gesund und mit dem ganzen Wesen wir uns lieben dürfen und können. Auch das ist wohl bei den Deutschen sinnvoller und natürlicher geblieben als bei diesem Volke hier – vielleicht ohne die Provinz, die so anders ist als Paris belebend und anregend wirkend – mir lieb und in unserem Typ vorhanden. Gottseidank, langweilig wird es uns nie werden! Wie typisch das Stendhal-Zitat, das Du mir neulich schriebst.
Soviel für heute, mein liebes, voll von schlechtem Gewissen, Dir nicht schon einen Tag früher oder zwei geschrieben zu haben. Doch Du weißt, wie ich Dich liebe!

Dein Werner.

 

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