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Brief (Transkript)

Mutter an ihre Söhne am 29.04.1945 (3.2002.1238)

 

Waldkirch, den 29. April 1945.



Meine lieben Buben!

Den heutigen Brief schreibe ich \"auf Vorrat\", denn im Augenblik ist es ja ganz unmöglich, einem Post zugehen zu lassen. Wenn aber wieder etwas abgeht, so ist der Brief dann wenigstens geschrieben, und geschrieben noch in der Frische des Erlebten.
Als allererste und wichtigste Nachricht: wir sind alle gesund, alles ist unversehrt und wir haben bis jetzt nicht das Schwarze unterm Nagel eingebüs
Nun einmal nach der Reihe. Am Montag, 16., hiess es, die Franzosen sind in Kenzingen. Am Dienstag waren sie bis Lahr zurückgeschlagen. Am Dienstag musste dann unser guter Herr Böhm fort. Klara Schüssler kam noch auf kurzen Sprung, um für ihr Schwester in Freiburg noch etliches zu holen, sie lässt Euch alle grüssen. Onkel Franz kam mit der Nachricht, dass der Alemanne-Betrieb vielleicht nach Waldshut verlegt werde und er dann mit müsste. Über die ganzen Tage war rege Fliegerei, abe ohne Tätigkeit. In der Nacht zum Freitag wurde Onkel Franz aus dem Bett geholt, musste schnell packen und gegen 2 Uhr dann abfahren, ich gab ihm einen Brief an Sofie mit damit er doch nicht so ganz gottverlassen in der Fremde sei. Am Freitag merkte man schon, dass es \"Degege\" ging. In der Nacht schon hatte sich Kellmayer krampfhaft um Auto für 16 Personen bemüht. Er und Herbst sind dann auch rechtzeitig abgehauen. Inzwischen kamen Artilleriestösse in ziemlicher Nähe, es hiess auch, sie seien im Kinzigtal. Am Samstag, als ich um 7 Uhr in den Jahrtag von Hans Dieterle
ging, fuhr ein Mann durch die Strasse und rief, sie sind 4 km vor der Stadt. Schnell rief ich noch den Mädeln, dass sie für Brot, Fleisch und Milch sorgen sollen. Nachher jagten sich die Nachrichten. Schon am Freitag hiess es alle Stunde anders: die Stadt wird übergeben – nein. die Stadt muss verteidigt werden. Gegen 10 Uhr wurde dann die Eisenbahnbrücke gesprengt, gegen 1 Uhr die Strassenbrücke nach Emmendigen. Für den Fall von Beschiessung und Bombardierung räumte ich noch eine Schrankkiste voll in den kleinen Keller, für den Fall von Plünderung vergruben wir allerhand. Den ganzen Morgen über strömten Soldaten zurück, oft in unbeschreiblichem Zustand. Auf allen möglichen Gefährten wurden die Tornister mitgeführt -sogar ein Kinderwagen war an einem Wagen angebunden. Gegen 12 Uhr hörte man lebhaftes Feuer von Buchholz her, hinten aus dem Tal war es schon den ganzen Morgen zu hören. Inzwischen wurden an der Bahn die Wehrmachtslager freigegeben, und die Leute schleten heim, was jeder nur befördern konnte. Die Kinder brachten auch Knäckebrot, Dauerbrot und Konserven heim. In den Geschäften wurde auch noch ausgegeben, was noch vorhanden war. Alles rannte, solange die Möglichkeit bestand. Etwa um 5 Uhr sah man Leute mit ihrem Luftschutzgepäck ins Amtsgericht laufen, Fridli ging auch –noch war es ja nicht bekannt, ob es zum Kampf komme. Bevor wir noch nachkommen konnten, kam Lioba gesprungen: sie sind da. Wie ich ins Wohnzimmer kam, sah ich, wie französische Soldaten sichernd die Strasse heraufkamen, es schoss auch dauernd, man konnte aber nicht sehen, woher. Ich liess die Läden herunter und lugte dann im 2. Stock kniend. Ein Angestellter des Krankenhauses kam herein, er war von den Franzosen in nächste Haus gewiesen worden. Er versicherte mir, dass in der Langen Strasse die weisen Fahnen aus den Häusern hingen. Da um die Kirche heum die Schiesserei kein Ende nahm, auch immer wieder stärkere Explosionen hörbar waren (Panzerfäuste) hing auch ich ein weisses Tuch hinaus, zum Zeichen, dass aus diesem Hause nicht geschossen werde. Endlich – es war inzwischen fast 7 Uhr geworden, kamen wieder die Leute aus den Kellern, mit weissen Tücher bewaffnet, auch Fridli kam heim und ging nicht wieder, es kam ja weder Artillerie noch Flieger. Nur ein recht starkes Gewitter tobte, dazwischen immer wieder Schiessereien, man konnte oft nicht gleich unterscheiden, ob das Krachen vom Himmel oder von der Erde kam. Nach 8 Uhr wurde es etwas ruhiger, Licht hatten wir schon seit dem Morgen nicht mehr. Wir assen und legten uns angekleidet ins Bett, im Dettenbach sollte ja viel SS liegen und es war wohl die Frage, was die nun machen würden. Doch blieb alles ziemlich ruhig, einige Male schoss es, aber als ich dann einmal wieder aufwachte, war es morgens 7 Uhr. So war die unheimliche und gefürchtete Nacht gut vorbei gegeangen die Sonne schien und liess auf neues Leben hoffen. In der Strasse 1ag ein toter Volkssturm-
mann, der vergeblich zu flüchten versucht hatte. Man tauschte mit der Nachbarschaft Erfahrenes und Erlebtes aus, und um 9 Uhr läutete es in die Kirche. Das war einem
ein Bedürfnis und eine Freude, auf deren Erfüllung man nicht zu hoffen gewagt hat
Im Lauf des Tages kamen viele Truppen an, es wurde auch verkündet, dass man ‚
Waffen und Fotoapparate abgeben müsse. Ich ging selber mit unserm alten Revolver
und den Apparathen, die durfte ich aber wieder mitnehmen. Alles war voller Panzer und Autos und voller Soldaten. Dazwischen flanierten die Fremdarbeiter und ehemaligen Gefangenen. Die Schuhmacherläden waren geplündert worden, Russenmädchen verteilten alles an die zufällig umstehenden. Man sah, was noch an Vorräten vorhanden gewesen war, obwohl man fast nichts bekommen, konnte, so wurde manchem die Plündern gegönnt, nicht zuletzt der Madam Epple,die stets nach 1 Stunde ihr \"ausverkauft\" an die Türe gehängt hatte.
Fridli war im Dettenbach gewesen, von wo die Soldaten verschwunden waren, sie hatten vieles liegen lassen, davon schleppten sich nun die Buben Tornister, Decken, Konserven u. dergl. heim. Nach 5 Uhr abends kam die erste Einquartierung. Ich spreche ja zum Glück, wenn auch nicht immer richtig, so doch ziemlich geläufig französisch, und so ging die Verständigung ganz gut. Es war eine Panzerbesatzung von 5 Mann. Ich legte sie in Gottfrieds Zimmer und brachte noch das Bettzeug von 2 Bubenbetten hinauf auf den Boden. Sie waren überaus anständig und höflich. Ich musste ihnen kochen von dem, sie gebracht hatten, für die Kartoffeln, um die sie mich gebeten hatten, gaben sie mir Reis und eine Büchse Fleisch. Sie litten auch nicht, dass ich ihnen ihr eigenes, sehr weisses Brot aufschnitt: „Nein, nein, das essen Sie, und wir essen von Ihrem schwarzen.“ Einer davon sah Bernhard so seh ähnlich, und der Unteroffizier war fast wie der Lothar drüben. Ich musste die Haustüre offenlassen, weil immer einer auf\' Wach zum Wagen musste. Etwa um ½ 2 Uhr – man hatte die ganze Nacht durch viele Wagen kommen hören – standen mir plötzlich 3 Mann vor dem Bett und wollten ein Zimmer zum Schlafen! Ich redete mit ihnen und sie zogen sich mit höflichen \"Pardon\" zurück. 1/2 Stunde später kamen wieder welche, die ich aber im Hauseingang unten abfangen und abfertigen konnte, nach wieder einer Stunde erledigte ich die 3. Partie vom Fenster aus. Kinder, was haben wir für Schutzengel gehabt, und wie froh war ich um jedes Wort französisch! Ich hatte kein bischen Angst, merkwürdigerweise, aber wie es dann Morgen war, war ich doch froh. Da sah man dann erst die ganze Bescherung. In Amtsrichters Wohnung hatten sich 25 Mann einqartiert, bei Dr. Vetters 44. Anderen wurden alle Betten geholt und in die Schulen gebracht, Jungbluts und Göpperts aus der Wohnung geworfen mussten alle zusammen in einer Mansarde bleiben. Hasen und Hühner waren ihres Lebens nicht mehr sicher, meine Soldaten brachte mir auch ein Huhn zum Braten. Es war aner so alt , das es wohl gutwillig gegeben war. Ich kochte zum Mittag eine grose Reissuppe für alle. Am Nachmittag rückten unsere wieder ab, nicht ohne höflichsten Dank und ganz herzlich ausgesprochene gute Wünsche für meine Soldaten. Das schönste war, dass ich über die ganze Zeit noch das Hitlerbild in er Stube hängen hatt. Sie habens angeschaut, ich habe es ihnen erklärt, und keiner hat mich krumm angeschaut. Nachher hab ichs aber doch weggetan, denn es liefen immer mehr angetrunkene Soldaten herum, einer kam herein und machte das Strassenschild am Hause weg, ich hatte gar nichts dagegen, war schon in Sorge gewesen, man schiesse mir einmal ins Haus herein deswegen. Es ist ja allerhand vorgekommen, teilweise wurde auch richtig geplündert, vereinzelt noch schlimmeres. 3 französische Soldaten wurden dafür erschossen. Wir haben uns von Herrn Ruf ein Loch durch die Mauer brechen lassen, dass man sich Notfalls auch bei Nacht beistehen könne. Es ist ja Ausgehverbot von 20-7 Uhr. Am Mittwoch Morgen rückte dann fast alles wieder ab, es sei Widerstand der SS im Raume Neustadt zu brechen. Seither ist es ganz ruhig hier, so in der Stadt merkt man gar nichts, auf der Langen Strasse fahren Militärautos, aber lange nicht so viel als von unseren Truppen. Seit Dienstag haben wir auch wieder Strom und hören, was in der Welt vorgeht. Waldshut ist ja auch schon hinüber, hoffentlich haben sich die sauberen Alemannen-Herren aus dem Staube gemacht, dass Onkel Franz wenigstens unbelastet ist, und hoffentlich war er so schlau und ist zu Sofie und dort untergeschlupft.
Inzwischen sind wir also von Euch abgeschnitten, und von allen Fronten sind die Nachrichten sehr beunruhigend. Für Bernhard und Konrad scheint Gefangenschaft die beste Möglichkeit, bei Franz ist auch das so schlimm wie alles andere. Ich kann eben für Euch nur beten, dass Ihr Gottes Hilfe und Gnade in allen Fällen habt und so über die schwere Zeit, die vor Euch allen liegt, hinwegkommt. Soweit ich Euch beistehen kann, will ich es gewiss tun. Man wird Euch allerdings manches abzubüssen geben, was Ihr und wir nicht verschuldet habt. Wenigstens aber ist unser Gewissen rein. Möge der Herrgott uns allen weiter Schutz sein und Barmherzigkeit erweisen.

 

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