Nach Zeitraum suchen

von 
bis 
SUCHE ZEITRAUM
Bestandskatalog PDF

Brief (Transkript)

Gerhard Kunde an seine Mutter am 4.11.1940 (3.2002.0864)

 

Feldpost.Nr. 20331

Reichshof, den 4.11. 40.



Lieber Mutter!

Das ist mir ja auch noch nicht passiert, daß ich „lieber“ schreibe, wenn ich Dich anrede. Aber das kam daher, daß ich gerade daran dachte, daß Du immer mit „mein lieber guter Junge“ anfängst. Laß doch in Zukunft bloß das „guter“ weg. Du weißt, daß ich auf dieses Prädikat keinerlei Wert lege, da ich mir niemals besonders gut vorgekommen bin. Und nachdem Lilo sich unverständlicherweise derselben Anrede bedient, hat sie den Wert der Originalität sowieso verloren.
Was würdest Du wohl sagen, wenn ich mit einem Mal erklärte, ich werde Lilo, trotz aller meiner Bemühungen, sie Dir nahe zu bringen, nicht heiraten. Du wirst mit dem Dir eigenen Scharfblick sofort vermuten, daß eine andere Frau dahintersteckt. Natürlich! Trotz der Gottverlassenheit dieser Stadt gibt es hier so etwas. Und das Exemplar, das ich kennen zu lernen das Glück – oder Unglück? – hatte, besitzt ausgerechnet eine ganz Reihe von Eigenschaften, die meiner teuren Braut leider abgehen. Vielleicht darf ich Dir kurz ein Bild dieses Mädchens entwerfen: Sie ist hier als Beamtin der Geheimen Staatspolizei, verbindet aber mit diesem zweifellos harten und unsentimentalen Beruf keinesfalls ein gleiches Wesen. Sie ist Berlinerin, hat vor 2 ½ Jahren ihr Abitur gemacht. Vater ist Kriminalkommissar, 1 Bruder Dipl. Ingenieur, jetzt Leutnant bei einer Art.Abt. an der Kanalküste, der andere Feldunterarzt in Metz. Du wirst zugeben, daß allein diese Tatsachen die Lilo in 3 Punkten überlegen sein lassen: a) Intelligenz, b) Familie, c) Offenheit des Wesens, denn soviel wusste ich von Lilos Familie kaum nach ebenso viel Wochen wie bei ihr Tagen Bekanntschaft. Dabei gibt sie etwas nicht damit an, ebenso wenig wie mit ihrem Haus, das sie in Reinickendorf besitzen. Eine Mutter hat das Mädchen schon seit 5 Jahren nicht mehr, und diese Tatsache hat außerordentlich tief auf ihre ganze geistige und seelische Haltung eingewirkt, da sie ihre Mutter schwärmerisch liebte. Daß ich auch das schon weiß ist nicht etwa ein Beweis ihrer oberflächlichen Geschwätzigkeit, sondern nur ein Zeugnis dafür, mit welch elementarer Kraft sich unser Zusammentreffen vollzogen hat. Das schien einfach so unabwendbar zu sein wie ein Naturereignis, sodaß wir beide übereinstimmend das Gefühl haben, als würden wir uns nicht 10 Tage, sondern 10 Monate oder gar Jahre kennen. Du wirst in dieser überraschenden Neuigkeit wahrscheinlich nichts anderes sehen, als einen neuen Beweis für meine innere Haltlosigkeit, für meine durch und durch läppische Einstellung und meine blödsinnig übersteigerte Strohfeuerbegeisterung. Na ja, so ungefähr komme ich mir selbst augenblicklich vor und muß gestehen, daß ich jegliches Vertrauen zu mir selber verloren habe. Deshalb wende ich mich jetzt hilfesuchend an Dich, da ich weiß, daß Du allein mein guter Mentor bist. Eins weiß ich allerdings auch noch recht gut, nämlich daß meine inneren Beziehungen zu meiner teuren Braut einfach weggeblasen sind. Das war übrigens schon nach 4 Tagen der Fall und hat mich da schon veranlasst, den so vernünftig erscheinenden Vorschlag des Mädchens, uns nicht wiederzusehen, da es zu nichts Gutem führt, zu verwerfen. Ich kann mir vorstellen, daß Du jetzt eine wahnsinnige Wut auf mich hast. Gerade in einem Augenblick, wo die Situation mehr als verzwickt ist, überlasse ich Dir die Entscheidung. Zu Deiner Beruhigung – soweit das noch möglich ist – kann ich Dir übrigens folgendes versichern: Mein Dienst und auch meine außerdienstlichen Beziehungen zur Veterinärkompanie haben unter der Sache in keiner Weise gelitten, ebenso wenig die Sorge um meine Gesundheit – ich habe noch keine Minute auf der Straße des Mädchens selber gestanden – und meine Ernährung – im Gegenteil, erst gestern haben wir gemeinsam Kaffee getrunken und auch frugales Abendessen in Form von Hühnerbraten zu uns genommen. Auch meine pekuniäre Lage leidet darunter nicht, da das Mädchen alles selbst bezahlt, was sie verzehrt.
Ich habe selten vorher so wenig gewusst, wie Du Dich zu etwas stellen wirst, wie diesmal, da ich nicht weiß, ob Du nicht noch immer froh wärst, wenn ich Lilo laufen ließe - -
Der Arzt hat mich übrigens k.v. geschrieben. Der Ausgleichsbetrag von 49,- Rm ist ganz in Ordnung. Da ich jetzt bei der Feldtruppe bin, werden mir nur 20 % meines Gehalts statt des ganzen Wehrsolds abgezogen.
Ich glaube, ich war nie so begierig auf eine Antwort von Dir wie hiernach. Ich will Dir noch gern mehr Einzelheiten schreiben, kann Dir sogar 2 Bilder von dem Mädchen schicken.
Ich wünsche Dir recht geruhsame Nächte u auch sonst alles Gute. Recht herzliche Grüße

Dein Gerhard.

 

 



Ansicht des Briefes

 

Briefe aus diesem Konvolut:
top