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Brief (Transkript)

Irene Guicking an Ernst Guicking am 02.12.1939 (3.2002.0349)

 

Gießen, den 2.12.39



Mein lieber, guter Ernst,

Deine beiden Briefe habe ich heute erhalten und bin heilfroh, daß Du nun endlich etwas Post von mir hast. Wo steckt nun die von dieser Woche? Heute mittag konnte ich Dir nicht schreiben. Wir hatten furchtbar viel Arbeit. Wir, Emmi und ich allein, der junge Chef im Krankenhaus, tagsüber. Die alte Frau Weber ist heute abend um 18.30 Uhr gestorben. Ein Tag war das, ich kann Dir sagen, schrecklich. Aber wie geht es Dir. Ich komme aus den Überraschungen gar nicht mehr heraus. Was soll ich nun darunter verstehen? Salzsäure hast Du über den Kopf gekriegt. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wie ist so etwas nur möglich? Du schreibst immer so unklar. Und ich mache mir doch Gedanken. Du sollst mir doch alles sagen. Die Ungewißheit bringt einem zum Verzweifeln. Es ist nur ein Glück, daß ich kaum Zeit habe zu denken. Nur abends, wenn ich endlich für mich allein bin, dann ist mein einziger Gedanke nur Du. Wie wird es Dir gehen? Was wirst Du eben tun? Ob Du auch schon schläfst? Wie Du gestimmt bist? Wo Deine Wunde am Kopf ist, auf der Seite oder vorn? Ich denke ja, daß Du mir auf meinem Brief hin eine genaue Schilderung gibst. Heilt denn Dein Kopf schon? Ach, ich möchte eben so viel wissen. Es ist eben 22.00 Uhr. Das erstemal in dieser Woche, daß ich früh, das heißt, um 21.00 Uhr zu Hause war. Gestern abend haben wir zusammen bis 23.00 Uhr gearbeitet. Ich wollte noch länger machen und blieb noch da. Der junge Herr Weber und Emmi sind nach Hause. Um 1.30 Uhr war ich dann endlich fertig mit den Bestellungen. Ich habe mich oben aufs Couch gelegt zum Schlafen. Emmi hatte mir von zu Hause eine Decke mitgebracht. Nachts um 3.00 Uhr rappelt beinahe zehn Minuten lang an einer Tour das Telefon. Draußen in der Gärtnerei hörte es niemand. Endlich gab es Ruh. Ich konnte doch nicht aufstehen und an den Hörer gehen. Durfte, oder sollte jemand wissen, daß ich im Laden schlafen sollte. Gut geschlafen habe ich gerade nicht, um 7.30 Uhr kam schon Herr Weber und klopfte an die Tür. Es war eine kurze Nacht. Es war diese Woche jeden abend 11.30 Uhr geworden. Du hättest keine Freude an mir, wenn Du mich jetzt sehen könntest. Blaß und dünne Backen habe ich. Nicht so, wie auf dem Bild. Aber bis Weihnachten habe ich es wieder aufgeholt. Du sollst nicht erschrecken. Ich freue mich so auf den Mittagsschlaf morgen. Denn morgen ist doch Sonntag. Hoffentlich bekomme ich keinen Strich durch gemacht. Ich soll morgen früh in der Gärtnerei kochen. Ich mache es sehr ungern. Die traurigen Gesichter die man sieht, erleichtern mir die Arbeit absolut nicht. So schnell wie möglich gehe ich morgen mittag weg. Ich weiß zwar noch nicht wohin. Dir will ich erst schreiben, und dann will ich nur noch schlafen, schlafen. Frau Weber wird morgen mittag aus dem Krankenhaus entlassen. Es ist schrecklich, was die Leute eben durchmachen müssen. Den jungen Herrn Weber hat den Tod seiner Mutter ordentlich angefasst, trotzdem sie ihm nur Böses zugefügt hat, aber es ist halt eben die Mutter. Der kann man immer verzeihen. Ich muß offen sagen, mich berührt es nicht. Ich kann ihr nicht nachtrauern. Sie hat sich eben danach benommen. Gut so. Die anderen werden endlich ihren häuslichen Frieden haben. Sie lag seit 27.11. im Krankenhaus. Hatte Darmverschluß. Wie wird nun alles werden? Ob sich viel ändert? Frau Weber hat sich auch sehr aufgeregt, wie sie hörte, daß Du krank bist. Die Grüße sage ich ihr morgen.
Ich habe Tante heute früh gesagt, daß Du im Lazarett bist. Auch, daß Du keine Post bekommst. Und sie sagte wieder, man würde es überall hören, daß die Post nicht an die Soldaten kommt. Irgendwo ist hier eine Sperre. Wie wird das Obst bloß aussehen, wenn Du es erhältst? Kann ich nicht einmal zu Dir kommen? Ich habe so Heimweh nach Dir. Ich möchte so gern einmal ganz bei Dir sein. Noch mehr, wie Du Dich auf Weihnachten freust, kann ich mich nicht freuen. Ich weiß wie es in Dir aussieht, und so genau weiß ich es. Es gibt keine größere Freude bis dahin. Ich weiß auch wie lieb Du mich hast. Unbegrenzt ist Deine Liebe zu mir. Ich weiß das so genau, als wär ich eins mit Dir. Meine Liebe zu Dir ist ebenso groß und ewig. Mehr kann ich mit Worten nicht sagen. Du bist alles für mich. Ich habe nie geglaubt, daß ich einmal eine so große unendliche Liebe entgegen bringen könnte. Die Art, wie Du Dir meine Zuneigung zu Dir erkämpft hast, hat mir eben gefallen. Vor allen Dingen, Du hattest Geduld. Du warst stets gut zu mir. Selbstlos wie kein Zweiter hätte sein können. Ganz klein fing diese Liebe an und langsam wurde sie immer größer. Und jetzt geht es wirklich nicht mehr höher hinaus. Alles bist Du mir jetzt. Ich kann sehr viel Liebe verschenken. Aber ebenso groß muß die Liebe sein, die man mir eben entgegenbringt. Der Gedanke, Du würdest mich um ein Haar breit weniger lieben, als ich Dich, würde mich schon umbringen. Aber dem ist ja nicht so. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß das immer so bleiben wird. Die Welt ist ja so herrlich schön, wenn man an der Seite des geliebten Menschen herschreiten kann. Beinahe, ich möchte sagen, überirdisch schön. Du willst mir danken, daß alles so kam? Das könnte ich doch ebenso? Glaubst Du, wenn Du Dich anders verhalten hättest, nicht so große Geduld mit mir gehabt hättest, wir wären heute so glücklich? Ich muß Dir danken, weil Du es verstanden hast, mich so zu nehmen wie ich bin. Ich kann sehr gut sein. Es hat halt nur sehr lange gedauert, bis ich es gezeigt habe, was Du für mich bist. Ich hatte doch schon viel früher Dich sehr lieb. Du hast es mir nur nicht geglaubt, oder Du hast es auch nicht gespürt. Es war vielleicht Dickköpfigkeit von mir, Dich auch in diesem Glauben zu lasen. Ich hatte Dich schon damals lieb. Ich mußte Dir aber trotzdem manchmal noch wehtun. Es war vielleicht eine Notwehr. Ich wollte eben nicht eingestehen, wie es in mir aussah. Und wie sich das nun alles zusammengefügt hat, es hat nun alles so sein sollen. Daraus entstand unsere gegenseitig, übergroße Zuneigung. Gute Nacht lieber Ernst, gleich ist es 24.00 Uhr. Ich küsse Dich und bin immer
Deine Irene
In knapp vier Wochen wollen wir heiraten. Und dieser Brief, vom 2.12.39 ist der erste große Liebesbeweis. Und ich habe mein übervolles Herz nun endlich einmal ausgeschüttet.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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