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Brief (Transkript)

Hans Stock an seine Tante am 31.06.1943 (3.2002.1217)

 

Gent, am 31.6.43


Liebe Tante

Eben habe ich Deinen etwas traurigen Brief vom 26. gekriegt. Die Zeit ist doch in ihrer „Grösse“ so brutal, dass man eigentlich gar nicht mehr auf solche Sachen kommen sollte. Ehrlich gesagt, ich würde „kalt lächelnd“ an den entlegensten Fleck der Welt ziehen, um mir eine vernünftige Existenz aufzubauen. Jegliches Heimatgefühl ist einem ja sowieso genommen, wenn auch in den Zeitungen stand: Deutschland wird größer und schöner, so führt einem das den ganzen Wahnsinn so wundervoll vor Augen. Wie es täglich schöner wird, sehen wir am Ruhrgebiet und man wird erst ablassen, wenn es den Höhepunkt der Schönheit erreicht hat und es überall nach rauchenden Ruinen und Leichen stinkt. Die ganze herrliche Jugend, liebe Freunde und Bekannte, alles muß seinen Teil zu diesem „herrlichen Schicksalskampf“ geben, diesem Wahnsinnigen und wirklich „asozialen Subjekten“ befohlenen Schlacht- und Vernichtungsfest. Und noch dazu will man uns dauernd den Kopf verdrehen, dass man seine Not hat, ihn gerade zu behalten. Jetzt sind alle voll von Jammer um den schönen Kölner Dom. Schade. Kommt heute sowieso nicht drauf an. Wollte man jeden wertvollen Menschen (es sind ja einige) der für sein geliebtes Deutschland fällt und zweifellos viel unersätzlicher ist als alles andere, ebenso bejammern, so müssten die Zeitungen im Lexikonformat erscheinen und man hätte schon lange eingesehen, was gespielt wird. Man sollte mal eine Mutter, eine Frau und alle, die ein geliebtes Geschöpf draussen haben, fragen, ob ihnen ihr Soldat oder ein heiler Dom lieber ist. Die Antwort ist klar. Soll man sich die Krüppel und dieses ganze elende Volk nach dem Krieg ansehen und darin leben, wenn man die Möglichkeit zu anderem hat? Glücklich derjenige, der sich freimachen kann! Den Egoismus dazu lernt man im Kriege. Wenn mir von solch verantwortungslosen Irrsinnigen jetzt vielleicht der Mensch genommen wurde, dem ich und der mir am nächsten stand, so habe ich wohl genug gegeben und wohl ein kleines Recht darauf, auf alles zu scheissen, um möglichst weit weg von diesem Unglück zu sein. Ich glaube Du weißt ganz gut, wie es ist, wenn man einen Menschen, den man liebt, verliert. Wenn man ihn aber in seiner schönsten Jugend und Kraft von seinen Feinden sinnlos ins Meer geworfen weiss, er also für den Wahnsinn eventuell sterben musste, so ist das zum verrückt werden. Ich kann mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen. Wen hatten wir als uns, und ich will nicht in Deinem Schicksal leben, verstehst Du das? Was nützen einem da Äusserlichkeiten wie ein schönes Deutschland oder alles andere! Das kann einem nichts ersetzen. So hatte ich selbst auch nicht so richtigen Urlaub, in dem man ja zufrieden nicht an den ganzen Mist denken will. War das eine Unruhe, aber die brauche ich jetzt. Lange. Bis ich vielleicht wieder mutig werde. Der unersätzliche Verlust eines Menschen noch vor der Erfüllung gegen einen Kölner Dom! Lachhaft. Und so geht es jetzt so vielen Menschen und keiner tut etwas dagegen. Wie konnte man nur so stur werden? Man zweifelt daran, ob Menschen, die nichts dagegen tun, überhaupt das andere wert sind. Man nennt sich Krone der Schöpfung, weil der Mensch allein Vernunft hat. Demnach besteht die Hälfte aus Untermenschen. Die sind es, die man hassen sollte und ich tue es zur Genüge. Die Aussichten auf eine glückliche Zeit nach dem Kriege, die wir zu zweit auch nach dieser furchtbaren Periode wirklich gehabt hätten, schwinden und nehmen mir unendlich viel Hoffnung für das Leben. Wegen all dieser Sachen bitte ich Dich und auch die anderen, mein etwas anderes, ungekanntes Verhalten im Urlaub zu entschuldigen. Ihr alle habt alles getan, um ihn mir schön zu machen, doch die andere Sache nimmt mich intensiver in Anspruch, als das ich ihn hätte geniessen können. Trag den Talismann für Wolf, der ihn jetzt mehr braucht, und damit auch für mich, alles andere mache ich schon.
Es grüsst alle Dein noch nicht ganz verzweifelter
H.

 

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