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Brief (Transkript)

Rudolf Emmerich an seine Eltern am 06.02.1915 (3.2011.3532)

 

Rawa 6.II.


Gestern Abend als wir aus dem Graben kamen, war Mutters Packet, Deine Karte vom 22.I. u. Mutters Brief aus Burg da. Das dachte ich nicht, daß es am vorigen Weihnachten das letzte Mal sein sollte, als ich die liebe Tante Berta sah. Aber vielleicht ist es gut und sie ist vor schweren Leiden bewahrt worden. Die Karte vom 22.I. habe ich am 5. II. bekommen und das Packet vom 25.I. am 1.II. Die andern sagen auch, daß die kleinen Packete schneller gehen als Briefpost. Also legt immer bitte etwas Schriftliches mit rein. Am 3. Abends sind wir wieder in den Graben gekommen. Schöne Unterstände mit einem kleinen Fenster, und einen kleinen Feldofen nehmen wir immer mit rauf. Vor dem Graben liegt ein ganz zerschossenes Dorf (Pukinin). Von den Häusern stehen nur noch die Kamine. Am Ende des Dorfes steht nur noch die Schule; rechts davon ist ein kleines Kiefernwäldchen, das vielleicht 900 mtr. vor dem Graben liegt. Rechts und links davon ist ein Graben gemacht, in dem unsere Vorposten stehen, ebenso in der Schule. Am Tage sind im Wäldchen 8 Mann und bei Nacht 16 Mann. Wir kamen gleich am ersten Abend vor. Als wir das erste Mal vorne waren, lag Neuschnee und es war Vollmond; da sahen wir hinten am Abhang 1000 m vor uns sehr schön die russischen Gräben, und auf 150 m standen die russischen Posten an einzelnen Bäumen und in einem abgebrannten Gehöft vor uns. Da sahen wir natürlich jede Ablösung, manchmal bis 30 Mann. Das letzte Mal mußten wir sehr scharf aufpassen, denn es war sehr dunkel. Mein Fernglas leistet hierbei großartige Dienste. Einmal behauptete der eine Posten steif und fest, es käme eine russische Schützenlinie auf uns zu. Einer meldete schnell hinten im Graben, und Alles war zum Empfang bereit. Mit meinem Glas stellten wir aber einwandfrei fest als der Mond einen Augenblick durch die Wolken brach, daß die russischen Dratverhaue wie eine Schützenlinie aussahen. - Am 4. Abends wurde von der Division bekannt gegeben, daß die Russen wahrscheinlich einen Angriff versuchen würden, denn man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Wir waren die rechte Flügelgruppe unserer Kompagnie; rechts lagen wir an der Straße von Rava nach dem Dorf, und rechts von der Straße lag die 11. Kompagnier (bei der Leutnant Espe ist; er war aber krank im Quartier.) Um ½ 1 Uhr kam von dem Wäldchen die Meldung, daß eine russische Schützenlinie u. dahinter geschlossene Kolonnen gesehen worden wären. Natürlich mußten wir alle raus aus dem schönen warmen Unterstand. ¾ Stunde warteten wir draußen und schimpften über die Kälte und über die Angsthasen da vorne, die wohl blos wieder die Dratverhaue gesehen hätten. Aber um ½ 2 Uhr ungefähr kamen die Posten von vorne in Marschmarsch angerannt und sagten, die Russen wären 50 m hinter ihnen. Wir glaubten es ihnen noch nicht. Es wurden immerzu Leuchtkugeln hochgeschossen, aber man sah nichts. Die Handgranaten wurden zum Empfange zurechtgelegt. Plötzlich ging gleich rechts neben uns in der 11. Kompagnie die Knatterei los, sowie eine Leuchtkugel abgeschossen wurde. Nach einigen Augenblicken kamen Schrapnells von unserer Artillerie, die Nachts ziemlich nahe hinter dem Graben auffährt. Großartig gezielt. Die Infantrieschießerei dauerte vielleicht eine Stunde. Ich habe die Russen ausreißen sehen. Wir mußten die ganze Nacht im Graben wachen. Am nächsten Morgen sahen wir deutlich die Russen im Dorfe schanzen. Ich sah es mit meinem Glas zuerst. Gleich sagten wir es unsern Maschinengewehren, die leider nachts nicht in Tätigkeit zu treten brauchten, weil vor unserem Dratverhau keiner zu sehen war. Jetzt ging die Knallerei nochmals los; da sind aber die Russen ausgerissen quer über die Schneefelder, und manchen hat es dabei noch erreicht. Bei völliger Helligkeit sah man vor den Dratverhauen der 11. Komp. 53 Tote liegen. Nachmittag ging dann eine Patrouille vor und fand unter den Toten noch 2 völlig Unverletzte (2 Gefangene).
Gegen 5 Uhr kamen durchs Dorf 8 Mann. Wir dachten, es wäre eine Patrouille von uns – da hoben sie die Arme hoch. Überläufer, das war ein Halloh. Wir winkten u. riefen, und sie hoben immerzu die Hände. Zwei Mann von uns gingen vor, dann gaben sie alle die Hand und strahlten vor Freude. Es sind ganz junge Kerle, die erst vor 4 Tagen aus Warschau gekommen waren. Die neuen Stiefel wurden ihnen gleich abgenommen, ebenso wie den Toten. Am Tage wurde die Wache im Graben auch verstärkt, sodaß wir in diesen 48 Stunden ungefähr gar nicht geschlafen haben. Am Abend gingen dann unsere Leute wieder vor ins Wäldchen, das die Russen den ganzen Tag über besetzt hielten. Also waren wir wieder vollständig in unserer Stellung, die Russen hatten soundsoviel Tote und Verwundete, und die Lust zum Angriff war ihnen sicher vergangen. - Nun habe ich wenigstens einen russischen Angriff mit erlebt. - Unser Graben ist ja ziemlich schwach besetzt, aber daß die Russen nicht rankommen, davon waren wir alle überzeugt. Es war mal ne ganz schöne Abwechslung. - Heute schossen die Russen seit langer Zeit mal wieder mit ihrer Schweren in die Stadt. Ich machte gerade Holz klein im Hof, da kam eine angesaust und fuhr 10 m von mir in den Pferdestall. Bretter und große Blechstücke sausten um mich rum und fielen neben mir runter. Aber gespürt habe ich Gott sei Dank nichts. Ein anderer, der auch Holz machte, stand einige Schritte von mir. Ich war gleich ein Stückchen weggerannt. Wo der stand, lag jetzt ein großes Blechstück, und ich dachte schon, der arme Kerl läge darunter. Als ich seinen Namen rief, kam er aus dem Stall raus. Heil und gesund. Eine kleine Episode!
Heute bekam jeder 1 Liter Bier von Weihnachten noch. Bitte Schokolade schicken, Zigaretten. Dies hier ist mein letzter Briefbogen. Kakaowürfel schicken, weil da schon Zucker drinn ist; Keks Speck Wurst Bonbon.
Man wird ein Leckermäulchen hier. Eben Feldküche mit Post gekommen; Nudeln. Hoffentlich bekomme ich wieder Post; nachher wird sie verteilt. Ich will noch warten mit zukleben. Die Lichter sind sehr gut. Schickt bitte immer welche mit. Die Post wird noch nicht verteilt. Gruß. R.

 

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