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Brief (Transkript)

Ernst Emmerich an seine Eltern am 25.01.1915 (3.2011.3530)

 

25.1.1915 (Berg Lanj[?] tolia[?])



Gestern sind wir durch Munkasz durch noch 2 Stunden in die Berge marschiert, bei Schneegestöber und grundlosem Schlamm. Vormittags war das Wetter noch gut, da konnten wir die Ungarn auf dem Kirchgang beobachten. Alles Verheiratete in gleichförmigen Pelzen, Männlein wie Weiblein, kaum zu unterscheiden. Wie Patriarchen schreiten die ergrauten Alten einher und nehmen würdig, langsam mit unglaublicher Grandezza[?] den Hut vor uns Deutschen ab. Mädchen in aller grellen Buntheit des Südens und Burschen im schwarzen verschnürten Rock. Alles durchweg in hohen Stiefeln. Es war ein recht eigenartiges Bild, all das schaarenweise nach der Kirche wallfahrten zu sehen, wo sich ein förmliches Meer aus weißem Pelz zusammenschob. Ob die Pelze von den dicht lockig behaarten ungarischen – Schweinen stammt, weiß ich nicht; möglich wärs schon. -
Die Witterung ist zur Zeit unserm Frühling täuschend ähnlich: Tauwetter, alles unergründlich, einmal ein kleines Schneegestöber, dann wieder einmal helle Sonne. Heute haben wir sogar Kätzchen von den Haselnußstauden gepflückt. Die Landschaft in den Vorbergen hier mutet sehr, sehr heimatlich an; es tut unendlich wohl, nach den endlosen Ebenen Polens einmal wieder Berge zu sehen. Der Kampf wird ja vielleicht ein wenig schwieriger sein und langsamer vorwärts gehen, aber zwingen werden wirs schon noch, nachdem der Sieg von Soissons auch hier frischen Wagemut hervorgerufen hat. Es wirkt im höchsten Grade belebend auf die Truppe, wenn sie von einem Siege auf einem anderen Schauplatze hört. - Heute sind nämlich unendlich viel Packetchen gekommen, denen nach Mittag noch zahllose Briefpost folgen soll. Als Unterlage habe ich die Henneberger vom 19.1., also sehr neue Nachrichten. Eine tägl. Rundschau ist bisher noch nicht eingetroffen, wird aber wohl heute Nachmittag eintreffen.
Übrigens spinnen die Frauen hier noch mit Rocken u. Handspindel ganz wie im Märchen, wo sie Daumen u. Lippen breitgeleckt u. gedreht haben. Überhaupt diese verzauberten Häuschen mit den kleinen Fensterchen, dem dicken, dicken Herd, auf dem die schwarze Katze sitzt u. schnurrt. Wenn man nicht ganz ganz hinten Kanonen donnern hörte, könnte man an der Zeit irre werden. - Was Du, liebe Mutter, meinst mit Irrewerden an sich selbst, da selbst ein Spittelers[?] gegen uns spricht (ich weiß übrigens noch nichts davon, dem kann ich nicht beistimmen. Wo man das Heilige zu suchen hat, dem das Verehrungsbedürfnis des Menschen sich zuwendet, wissen wir doch; das trägt ein jeder in sich selbst. Was wir an einem Spitteler[?], einem Verharren verehren ist im Grunde nur ihre Wirkung auf uns, ist die Empfindung, die sie in uns auslösen, verdanken wir dem Genie, das ein gütiger Weltgeist in ihnen zu offenbaren sich bewogen gefühlt hat. Genie und Mensch ist aber nicht Dasselbe. Wenn Du meinen Briefwechsel mit Pfauch kennen würdest, so würdest Du darin die Bemerkung finden, daß das Dichterische u.s.w Genie durchaus ein vom Träger desselben, dem Dichter eto verschiedenes Wesen ist, das mit demselben durchaus nicht im Einklang zu stehen braucht.
Nahezu einig bei Goethe, führt ihr Widerstreit einen Nietzsche zum Wahnsinn. - Und nun – in Spitteler[?], Verharren u.s.w. - hat nun eben jetzt nicht das Genie das wir verehren, sondern der schwache, Irrungen unterworfene Mensch gesprochen; vielleicht auch noch getäuscht durch Lügenberichte. Mag dem sein, wie es will; an uns brauchen wir deßhalb nicht irre zu werden: wir tragen unsere Götter in uns selber. -
Befinden ausgezeichnet. Wo Rudi? Ernst.

 

 



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