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Brief (Transkript)

Ernst Emmerich an seine Eltern am 29.11.1914 (3.2011.3530)

 

Im Schützengraben den Herr Sibiriern gegenüber am 29.11.1914.


Wir liegen hier auf Stroh im Unterstand und warten, ob sich nach 4 Tagen tatenlosen Wartens etwas aus den vereinzelt fallenden Schüssen entwickeln wird. Tatenlos waren die Tage allerdings nur an unserer kleinen Ecke, wo eben blos aufzuhalten war. Das Gros hat ja gestern wie amtlich gemeldet sein soll, mal wieder 7000 Gefangene 150 Geschütze u. 200 Maschinengewehre erbeutet. Entferntes Geschützgrollen war die einzige Kunde davon, die sich zu uns verlor. Unsere Kompanie lag 3 Tage in Reserve in einer elenden Bauernstube von 16 qmtr; belegt mit 20 Mann u. 3 Unteroffizieren, in die ein paar Studentenkäppchen von Euch, die sich mit etwas Speck u. Rum bei mir einfanden, einen Lichtstrahl voll Seligkeit warfen. Ganz andächtig habe ich hinter dem halb verfallenen Ofen auf einem Rübenhaufen gehockt u. sie verzehrt. Die paar kleinen Dingerchen hatten gar viel zu erzählen mit ihrem heimatlichen Weihnachtsgeschmack. Es war ein Traum aus einer besseren Welt, der mich vergessen ließ, was um mich war - Das große Heimweh all der harten Gesellen im grauen Rock, das jeden Abend sich in wehmütigen Liedern den heiser gewordenen Kehlen entringt!
Das große Leid des armen Volkes hier, dessen letztes Gut, dessen letzte Nahrung fortgenommen wird; das selbst mit Hand anlegen muß, die Hungersnot herbeizuführen; u. die Hungersnot kommt; sie schaut schon aus den verängstigten Gesichtern der Leute, klingt schon aus dem Weinen der Kinder. Und hier wird Niemand helfen wie bei uns in Ostpreußen oder im Elsaß. - Zäune, Türen, Bretter von den Scheunen, alles wandert ins Feuer, auf dem ungedroschenen Getreide liegen Soldaten umher u. zertreten es. Die Kartoffeln sind in 3, 4 Tagen allemal aufgezehrt; und den Leuten bleibt kaum das Zusehen, wenn alles von der Feldküche Essen holt. Ein großes großes Leid wird über dies elende Land kommen. Noch 6 Wochen u. es ist da. -
Uns selbst geht es noch recht gut, nachdem der General unseren Major mal scharf ins Gebet genommen hat, warum unser Brot, das hinten läge, nie geholt würde. Da gabs denn auch einmal welches, und etwas mehr Post steht auch noch in naher Aussicht. -
Angst werdet Ihr haben, daß wir sehr frieren. Das ist aber so gar schlimm nicht; wenn man auch manchmal nachts denkt, es hat einem einer die Füße gestohlen. Jedenfalls erreichen wir damit, daß die Russen auch draußen liegen müssen, und die frieren trotz ihrer warmen Mäntel noch viel mehr, wie man an den Gefangenen sieht, die jämmerlich mit den Zähnen klappern.
Es mangelt an Briefpapier u. Feldpostkarten. Wenn mal so viel Zeit hat wie wir jetzt im Schützengraben, dann vertreibt man sich die Zeit gern ein wenig mit Schreiben, wenn man auch die tausend Nachtgedanken nicht zu Papier bringt. Die Nächte sind ja lang, von 4 ½ Uhr Nachmittags bis 6 Uhr früh; die kann man, wenn man schon den halben Tag schläft, nicht ganz verschlafen. Etwaige Gerüchte von schweren Verlusten unsres Bataillons beziehen sich auf die Gefechte vor einigen Tagen.
Besten Gruß! Ernst.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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