Brief (Transkript)

Heinrich Begemann an seine Eltern am 27.12.1870 (3.2013.3340.21)

 

Liebe Eltern !

Weihnachten ist vorüber, Ihr habt die Feiertage wie=
der hinter Euch. Wir haben Gott sei Dank morgen
wieder einen Feiertag, einen Ruhetag, aber da=
für ist Weihnachten auch nicht für uns dagewesen.
Verleiht mir Gott, nochmal wieder Weihnachten zu fei=
ern, so werde ich gewiß, so oft ich es thue, stets an
Weihnachten 1870 zurückdenken. Das werdet Ihr bald
begreifen.
Wie auf der Corresp.[ondenz]carte steht, die ich leider nicht
los geworden bin, hatten wir schon Sonnabend in Mont-
argis Ruhetag, da zwischen Montargis u.[nd] Orleans keine
größere Stadt mehr lag. Dafür mußten wir nun aber [an]
den beiden Feiertagen schwitzen. Weihnachten
feierten wir noch am heiligen Abend, indem Geß, Wi=
scher, Duncker u. ich uns einen ordentl.[ichen] Glühwein mach=
ten.
Sonntag morgen traten wir um 7 ½ Uhr auf dem
Markte von Montargis an. Es war eine furchtbare
Kälte. So gut ich auch angezogen war, die Zähne klap=
perten mir im Munde. Es ginng auf Bellegarde
zu, 22 oder 24 Kilometer also 5 ½ - 6 Std zu marschieren.
Wir liefen fast und kamen dafür schon um 1 Uhr 40 Min[uten] in
Bellegarde, sodaß wir also mit unserem Rendez-vous (Marsch-Halt)
nicht 6 Stunden gebraucht hatten. Wir kamen jetzt
immer mehr in die Nähe des Krieges. Biwouakplä=
tze (Biwak) waren am zurückgebliebenen Stroh noch ver=
schiedentlich bemerkbar. Wir passirten auch ein sehr
zerschossenes Dorf Ladon. Hier in Bellegarde hat=
ten die Leute nun keine Lebensmittel mehr, zum
ersten Male erlebten wir das. Es mußte ge=

erst geschlachtet, Fleisch, Brod, Wein requirirt (beschlagnahmt) u.
dann vertheilt werden. Das ginng nun, da es
zum 1. Male geschah, sehr ordentlich zu. Doch
ich hatte ein gutes Stück Fleisch, wenn auch
anders nichts, erfaßt und es wäre mir sehr
gut ergangen, wenn das Unglück nur nicht
gewollt hätte, daß ich vom 1. auf den 2. Feiertag
auf Wache zöge. Das war nun sehr übel. Ich konn=
te nichts Warmes mehr zu essen bekommen, da
ich das Fleisch erst um 5 Uhr erlangt hatte und die
Wache schon um 6 aufziehen sollte und es war so
furchtbar kalt. Doch wenn´s muß, geht vieles.
Durch die Güte unseres Lieutnants v. Bredow
bekamen wir noch eine warme Chocolade. Er
schenkte uns 2 Tafeln süße Choc.[olade] und wir brau=
ten die mit Wasser, was ich erlangt hatte, zu
recht. Auch versuchte Vischer vom dem erlang=
ten Fleisch noch eine Suppe zu kochen, die wir
um 4 Uhr Morgens, so schlecht wie sie war, zu
Gemüthe führten. Brod bekamen wir auch. Somit
ging das Wachen noch so ziemlich. Aber nun das
Marschieren am 2. Feiertage, das war furchtbar
schwer. Wir sollten eigentlich nur bis Chateauneuf
mußten aber, da wir dort keine Quartiere
mehr bekommen konnten, nach Fay aux Loges,
2 Stunden weiter, im Ganzen 30 Kilometer.

28.12.70.
Ich ermüdete so sehr, daß ich mich einmal niedersetzen
mußte und es kostete nur eine kolossale
Energie, mich endlich hinzuarbeiten. Durch
meinen Freund Geß bekam ich, Gott sei Dank,

ein gutes Quartier. Er bekam vom Lieut=
nant ein Officiersbillet (Offiziers-Quartierzuweisungsschein) beim Pfarrer. Da Vischer,
Geß u. ich nun aber schon ein Quartierbillet
zusammen gekommen hatten, so machten
wir auch zusammen auf den Weg zum
Pater. Der nahm uns denn alle 3 auch sehr
freundlich auf, wir bekamen gutes Essen,
trefflichen Wein u. ein gutes Bett, obwohl
der gute Mann sehr wenig nur noch hatte. Als
ich gestern Morgen aufwachte, glaubte ich, ich wäre
eben zu Bett gegangen, so hatte ich geschlafen.
Ich fühlte mich noch gar nicht wohl. Wir brauchten
glücklicher Weise erst um 9 ½ Uhr abzumarschieren,
sollten aber um 8 Uhr Fleisch, Brod u. Wein
empfangen. Aber dies wollten Vischer u. Geß
mir mitbringen u. so konnte ich noch ein Bischen
liegen bleiben, als sie um 7 Uhr aufstan=
den. Geß machte einen guten Thee (schon am
Abend vorher hatte er
Chocolade gemacht),
ich aß tüchtig, und so kam ich wieder
auf den Damm. Als wir abmarschierten,
war ich wieder ganz frisch und bin es auch jetzt
noch. Thee, Chocolade u. Fleischextract ist das Be=
ste, was man haben kann und wenn Ihr
mir einmal etwas schicken wollt, so schickt
mir von diesen Dingen.
Hier in Orleans liegt furchtbar viel Mili=

Militair, man sieht fast vor lauter Solda=
ten gar keine anderen Menschen.
Morgen werden wir nun weiter gehen
auf Tours, das ja schon lange vom 10. Armee=
corps besetzt ist, wie ich eben gelesen habe.
Ich habe nämlich gestern Abend eine Zeitung
vom 22. d.[iesen] M.[onats] von dem Burschen (waffenloser Diener) des Offi=
ciers, der hier im Hause wohnt, erhalten,
die erste, die ich seit Hannover gesehen habe.
Ich läge hier sonst ganz allein, da Geß,
mit dem ich ein Billet (Quartierzuweisungsschein) zusammen ge=
nommen hatte, zum Lieutenant ziehen
mußte.
Ich muß jetzt machen, daß ich zum Appell
komme und deshalb schließen. Noch meine
herzlichste Gratulation Euch allen zum neu=
en Jahre. Gebe Gott, daß wir uns in dem=
selben alle gesund u. munter wieder
sehen. Viele Grüße
Euer

Heinrich.


 

 



Ansicht des Briefes

 

Briefe aus diesem Konvolut:
top