Brief (Transkript)

Heinrich Begemann an seine Eltern am 21.12.1870 (3.2013.3340.19)

 

Liebe Eltern !

Ich will meinen Brief von gestern fortsetzen und Euch
noch Einiges von meinen Erlebnissen erzählen, daß
wir in dem Dorfe Dixmont (nördlich von Joigny) von Montag 19/12 auf Dienstag
übernachteten, wie wir uns dort Hals über Kopf
in die Quartiere warfen u.s.w. habe ich schon erzählt.
Dienstag Morgen um 9 Uhr liefen die Officiere
durchs Dorf und riefen uns zusammen. Wir waren
nicht einmal am Abend vorher zum Antreten
bestellt. Eigentlich sollte der Dienstag Ruhetag
sein; wir hatten 3 Tage marschiert. Wir sollten
nun noch einen kleinen Marsch bis Joigny ma=
chen. Zunächst ginng es wieder eine halbe Stunde
bergan, was furchtbar anstrengte, und dann
marschierten wir beinahe 3 Stunden durch einen
Wald. Es war dies der Forêt d’Othe, zu dem
auch die Berge wohl gehören, die wir am vorigen
Tage überschritten. Hier unterwegs wurden wir
etwas von unserm Ziele gewahr. Lieutenant
v. Bredow erzählte Gess: Bei Joigny u. darüber
hinaus sei eine Lücke zwischen zwei aufgestell=
ten Corps; Auf dieser Stelle versuchten Reste der
Loire=Armee durchzubrechen, wir wären be=
stimmt worden, diese Lücke auszufüllen, könn=
ten daher jeden Augenblick den Feind erwar=
ten. Wir haben aber nichts vom Feindegesehn, so sehr wir
es auch wünschten und werden morgen auf
Orleans marschieren, wo doch ungefähr unser
Regiment wohl sein wird. – Als wir 3 Stunden
ungefähr im Walde marschiert waren, lichtete
er sich plötzlich und wir standen auf der Spitze
eines steil abfallenden Berges. Wir halten

eine reizende Aussicht in das Thal der Yonne. Die
Stadt Joigny lag vor uns im Thal; rings herum
üppige Dörfer; an den Abhängen der Berge lau=
ter Weinberge. – „Ah, Ah“ tönte es aus aller
Munde. Die Pilger nach dem heiligen Lande kön=
nen bei dem Anblicke Jerusalems nicht mehr
gejubelt haben, als wir beim Anblicke dieses
Thales, das durchaus kein winterliches Aussehn
hatte, sondern vielmehr das des erwachendes
Frühlings – es ist immer das herrlichste Wetter,
heute Abend allerdings etwas kühl – und beim
Anblick des hübschen Joigny, in dem wir einen
Tag Ruhe haben sollten. Rasch fast im Laufschritt
turnten wir durch die Weinberge am Abhange
des Berges hinab, den Druck des Tornisters
fast vergessend, und zogen dann mit Gesang
ein. Wir hatten leider noch etwas herumzu=
stehen, da unsere Fouriere (Versorgungsdienst) ja noch in Sens
(zwischen Troyes und Paris)
waren und uns nicht voraus gegangen wa=
ren, der Maire (Bürgermeister) daher zuerst für 2000 Mann
Quartierbillets (Quartierzuweisungsscheine) zu schreiben hatte. In dieser
Zwischenzeit wurden wir nun rangirt (geordnet) und
zu Halbbattaillonen formirt, um auf dem wei=
teren Marsche zum Gefechte besser fertig zu sein.
Um 2 Uhr wurden die Billette vertheilt. Geß,
der mein Korporalschaftsführer ist, bekam
ein Billet für 20 Mann. Das war eine öde Aus=
sicht. Wir suchten das Haus auf und fanden
ein großes, schloßartiges Haus, zu dem aber
das Thor verschlossen war. Die Leute, die davor
standen, erzählten, es sei schon seit 3 Jahren

verlassen. Endlich kam eine alte Frau und schloß
auf. Ein großer Hofraum war vor dem Hause,
in ihm selbst lag Alles durcheinander, leere
Flaschen, Teller, Überreste von Speisen und alles Mög=
liche. Wir stiegen unser 20 die Treppe hinan. Aber
welche Augen machten wir, als sich die größte Pracht
vor uns entfalteten. Überall die feinsten Mö=
bel, die herrlichsten Gemälde in Unmasse, große
Säsln (Sessel?), Billard, Clavier u.s.w. u.s.w., als wär
das Haus soeben verlassen. Wir durchsuchten
alle Zimmer, indem wir eins nach dem andern
aufschlossen und staunten immer mehr. Doch
zu Essen gab es – nichts, und das war doch die
Hauptsache für uns. Geß machte sich daher mit der
alten Frau auf den Weg zum Maire, um andere
Quartiere zu erhalten, während wir immer wei=
ter das große Haus durchwanderten und Eins nach
dem Andern anstaunten. Bald kehrte Geß zurück
mit 2 Bill[ets]. 1 für 4, 1 für 16 Mann. Er und ich mit
2 andern meiner Couleurbrüder (Burschenschaftler) nahm er das für
4 und suchten das Haus auf. Hier haben wir es nun,
wie ich schon schrieb, ausgezeichnet getroffen bei
einem alten behäbigen, gemüthlichen Particulier (wohlhabender Privatmann),
der mit seiner Frau allein ist, einen Sohn in
Deutschland gefangen sitzen hat. Wir bekamen
sogleich ein feines Essen mit sehr tüchtigem Wein,
den wir nicht stehen ließen. Heute morgen um
8 Uhr gab schon Kaffe, weil unsere Kameraden
immer gesagt hätten, das wäre in Deutschland,
um (in Frankreich trinkt man fast gar keinen Kaffe.)

um 11 Uhr ein feines Dejeuner (Frühstück), natürlich
warm mit Wein und jetzt um 6 Uhr erwartet
uns das Diner.
Morgen sollen wir nun marschieren bis Cou
Courtenay (im Südosten von Paris), 4 Meilen, ein tüchtiger Marsch.
Die Officiere hatten anempfohlen, sich tüchtig zu
versorgen und das thaten die Leute dann auch
ordentlich. Heute Abend war die ganze Stadt
leer gekauft, viele Läden waren geschlossen
und trugen die Aufschrift „nix“. Wir wer=
den nun wohl wieder 3 Tage marschieren und
dann gerade am 1. Feiertage, hoffe ich, Ruhe=
tag haben. Zum Regimente werden wir
wohl gegen Neujahr kommen. Dann kann ich
hoffentlich bald einen Brief von Euch bekom=
men, worauf ich mich schon freue. Darin werde
ich dann auch wohl etwas von der Weltgeschich=
te hören. Denn da wir sie nun selbst machen,
hören wir nichts davon, wies eigentlich steht.
General von Werder soll todt sein?
Wann ich wieder schreibe, weiß ich noch nicht, hoffent=
lich um Weihnachten. Macht Euch aber keine Sorgen,
wenn der Brief einmal etwas auf sich warten
läßt. Man hat mit vielen Hindernissen zu thun.
Grüßet alle Bekannte u. Verwandte recht
herzlich von mir

Lasset es nur, ich werde bald schreiben. In treuer Liebe
Euer Heinrich.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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