Brief (Transkript)

Heinrich Begemann an seine Eltern am 16.11.1870 (3.2013.3340.8)

 

Liebe Eltern !

Diesen Mittag habe ich Euren lieben Brief erhal=
ten u.[nd] ich beeile mich nun Euch etwas ausführ=
licher als auf Correspondenzkarten über mein
Ergehen zu benachrichtigen. Ich hatte es eigent=
lich nicht erwartet, daß wir noch wieder in der
Ruhe gestört würden und offen gesagt, es wä=
re mir eben so lieb gewesen, wenn wir ruhig
in Göttingen geblieben wären. Ich hatte es dort
nun so nett und gemüthlich und fing gerade
meine Studien wieder an. Dazu ist es doch auch
eine ziemlich öde Aussicht, den Winter etwa
an der Nordsee zu verbringen. Denn was nun
unsere Bestimmung betrifft, so sind wir of=
fenbar dazu hergekommen. Wozu sonst dies plötz=
liche Abrücken? Da nun die franz.[ösischen] Schiffe der Kü=
ste nicht gefährlich werden, so werden wir vor=
läufig wohl ruhig hier bleiben und abwarten,
ob sich wieder etwas zeigt. Wir sind ja jeder=
zeit zu sofortigen Abmarsch bereit, da wir
Alles beisammen haben. In den Zeitungen
stand hier neulich, daß sich hier ein großer
Nachschub nach Frankreich sammle, zu dem
wir gehörten. Jedoch merkt man von andern
Truppen, die nachgeschickt werden sollen,

hier nichts. Freilich uns allen [wäre] das viel lieber,
wenn wir, obgleich sehr spät, noch Antheil
an den großen Thaten unseres tapferen
Heeres bekommen sollten. Aber der Umstand,
daß wir d.h. unser Ersatzbattaillon von mor=
gen ab die Wache in der Garnison mit thun
muß, deutet darauf hin, daß wir wohl noch
länger hier bleiben sollen. Andererseits freilich
auch der Umstand, daß wir alle unsere Sa=
chen namentlich die Patronen behalten, auf
ein baldiges Fortkommen hin. Wenn wir
nun Wache mitthun – mindestens alle
8 Tage werden wir darauf kommen –
bekommen wir etwas mehr Dienst. Jetzt
haben wir es sehr bequem. Die ersten 3 Ta=
ge hatten wir nichts zu thun. Jetzt müssen
wir des Morgens 1 Stunde exercieren,
wozu freilich der weite Weg nach dem Exer=
cierplatz kommt. Nachmittags um 3 müs=
sen wir dann noch einmal antreten u.
die übrige Zeit haben wir ganz frei.
Da kann man leider nun nicht viel anfan=
gen, als essen und trinken u. dgl. denn
Bücher, Zeitungen u. dgl. hat man ja nicht.
Doch ganz so schlimm ist es nun denn doch
nicht. Wir Germanen (Göttinger Burschenschaft von 1851) haben es sehr ange=
nehm, daß wir hier einige von unsern

alten Leuten (alte Herren der Burschenschaft) haben, einen Pastor Kaiser in
Linden und 2 Lehrer hier, mit denen wir oft, so
auch heute Abend noch zusammen kommen.
Es sind ganz allerliebste Herren. In Linden, wohin
wir Sonntag waren habe ich auch einen H[errn] Pastor
Wecken kennen gelernt, der mir einen Gruß
an Herrn Pastor Kirchhoff aufgetragen hat, was ich
hiermit Euch zu besorgen bitte. Auch einen Gruß
von mir werdet Ihr ihm bestellen.
Sonst habe ich mir Hannover so etwas besehen, bin in
dem prächtigen Theater gewesen u. dergl. Besucht
habe ich niemanden, kann es auch wohl nicht gut
in dem knotigen Anzuge. Denn ich habe meinen
alten Rock mitgenommen, da der neue im Felde ja
doch bald wieder wie der alte geworden wäre,
nur die Feldmütze, mit Nägeln beschlagene
Stiefel, u. als mobiler Soldat die Hosen in der
Regel in den Stiefeln. Sollte wir jedoch noch
länger hier bleiben, so werde ich mir in den näch=
sten Tagen Rock u. sonstiges von Göttingen
nachkommen lassen. Was unsern Tageslauf
betrifft, so stehe ich mit meinen 3 Kameraden
in der Regel um halb 7 auf, putze, trinke dann
Kaffe, der uns seit einigen Tagen sehr gut
mit Brödchen von unserm jüdischen Quartier[=]
wirt gegeben wird und gehe dann zum Dienst.

Wir haben unser Quartier nämlich nicht,
wie Du, liebe Mutter, zu glauben scheinst
gewechselt, sondern wir als Göttinger
Studenten, was dem Juden sichtlich un=
gouirte (missfiel), ein anständigeres, ja sehr hübsches
Zimmer mit Schlafkammer erhalten.
Der Jude soll ein reicher Mann sein.
Um 10, halb 11 ins Quartier zurückgekehrt
gehen wir mit unsern Feld(Taschen)messer[n]
übers Commisbrod her. Einer wird aus
geschickt, um Butter und Wurst anzu=
schleifen und dann wird ein ordentliches
Frühstück eingenommen. Zu Mittag essen
wir bald hier, bald da, oft sehr schlecht für
5 - 7 Groschen. Des Abends esse ich entwe=
der wieder im Wirtshaus oder gar nicht.
Dabei kommt man mit seiner Löhnung
nun freilich nicht ganz weit. Denn wir
bekommen nur unsere 3 Sgr (Silbergroschen) und 16 d (Pfennige)
Verpflegungszuschuß [u Commisbrod sonst nichts].
Ich hoffe aber, daß wir noch nachträglich einen Zuschuß bekom=
men. Ich weiß sonst nicht, wie die armen
Kerls, die gar nichts zuzusetzen haben,
es machen sollen. Ich hatte noch etwas Geld
und habe bis jetzt keinen Mangel gelit=
ten, auch sparsam gelebt. Diesen Mittag
hatte ich noch 1 rt (Reichstaler), Montag giebts wieder
Löhnung. Nur immer lustig, dann erträgt
man alles am besten.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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